Riehls Technik, 497.
zustande einer gegebenen Zeit" spielen sich frei erfundene Geschichtenab. Frei erfunden — aber doch immer, selbst ohne Wollen desAutors, geleitet von einer erzieherischen Absicht. Diese verrät sichbesonders deutlich auch in der hervorstechendsten Eigenheit seinerTechnik: seiner Leidenschaft für den Chiasmus. Fortwährend tanzenim Menuettschritt die Begriffe übers Kreuz. So heißt es etwa inRiehls köstlichster Novelle, „Vergelts Gott": „Hans war einnatürlicher und Veit ein künstlicher Krüppel, Veit dagegen einnatürlicher und Hans ein künstlicher Augsburger." Aber derChiasmus ist für Riehl mehr als eine schmückende Figur; erwird für ihn, wie für seinen Schüler Hans Hoffmann, das ord-nende Prinzip der Fabel. In der besonders gerühmten Novelle„der stumme Ratsherr" wird dreimal betont, daß Meister Rich-win den Hund zu erziehen glaubte, während dieser ihn erzog.Ebenso beruht die Handlung in „Jörg Muckenhuber" darauf, daß„die Eine ihre Schnld nicht bekennen wollte, und man hätte siedoch so gern verurteilt, den Andern hätte man so gern lansenlassen, aber selbst auf der Folter gab er seine Unschuld uichtzu". Diese Vorliebe für eine bestimmte Kunstform liegt iu Riehlsgauzer Art begründet. In seiner psychologischen Eigenart: er istEklektiker, ein Freund kunstreicher Mischungen und Ansgleichuugen.Und in seiner Weltanschauung: er glaubte noch an seste dauerndeOrdnungen im Menschenleben, unverrückbare Standesunterschiede,unveränderliche sociale Typen; Verfehlung entsteht für ihn fastimmer dadurch, daß zwei Typen ihre festen Attribute tanschen. Derlebenskräftige Jüngling begehrt den Tod, die alte schwache Franwehrt sich wild dagegen. Die Fürstin will Komödie spielen, derMusiker Gedanken ausdrücken, der Krieger ist auf seine weibischeSchönheit stolz. Und dann kommt am Ende der Erzähler alsPädagog, tauscht übers Kreuz — uud alles ist wieder gut.
Die Psychologie ist also, soweit sie den Einzelnen angeht, nichteben tief; sie bleibt im Rahmen der alten psychologischen Typen,mit denen sich die glänzendste und reichste Nomanlitteratur allerZeiten, die englische und französische des 18. Jahrhunderts, behalf.Das Hauptgewicht liegt in dem, was ich die „Psychologie derVerhältnisse" nennen will, nnd was Goldsmith, Fielding undSmollett so meisterlich beherrschen, daß ihr Erbe Dickens sie nirgendserreicht hat: in der Kraft dauernder Einrichtungen, die sich srüheroder später gegen alles Anstürmen der Persönlichkeiten mächtig zeigen,
Meycr, Litteratur. 32