Print 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Place and Date of Creation
Page
502
Turn right 90°Turn left 90°
  
  
  
  
  
 
Download single image
 
  

502 184018S0.

länders: Thomas a Becket ist eine Natur von größter Heftigkeitdes Begehrens, aber diesem Begehren ist keine bestimmte Richtungeingeboren. Wie der Dichter selbst, giebt er sich erst ganz deinLebensgenuß hin, schwelgt in Pracht und Herrlichkeit. SeinenKönig warnt er selbst, ihn nicht in die Hand eines Größeren zugeben. Heinrich II. thut es doch. Und nun ändert diese großePrüfung den Hofmann von Grnnd aus: leidenschaftlich stürzt ersich nun in die Wollust der Askese, lebt ihre Süße so unersättlichdurch wie einst die Freuden der Welt, und versagt sich auch deuStachel nicht, den alten Freund und Wohlthäter selbst, den König, zupeinigen. So steht er vor uns, der Heilige, ein Rätsel noch immer,aber in greifbarster Realität, sicherster Existenz. Und welche psycho-logische Meisterschaft entwickelt der Dichter hier in Einzelseenen wiejener, wo der fein durchgebildete Kircheufürst trotz aller Abtötungnervös zurückzuckt vor dem ordinären, grobsinnlichen Mund, den derKönig ihm zum Versöhnungskuß entgegenstreckt!

Aber wie die Überkraft, so ist auch die Schwäche den Ver-führungen ausgesetzt. Ein geistig unselbständiger, unbegabter Jungeschreibt ein gefährliches Wort zu einer Zeichnung die Unüber-legtheit eines Schulfreundes hat es ihm eingegeben. Die Unklug-heit seiner Geliebten vollstreckt das Todesurteil, das der nachtragendeHaß seiner Lehrer vorbereitet hat: sie kann im wichtigsten Moment derVersuchung nicht widerstehen, eine pompöse Phrase anszusprechen,die ihm die Möglichkeit des Weitcrlebeus verschließt. Als Märtyrerder Dummheit stirbt der arme Sohn des Marschalls von Bouflersin Meyers Meisternovelle, der Tragödie der Dummheit (Das Leideueines Knaben"). Und dennoch neue Paradoxie! stirbt er(wie der arme, landflüchtige Ulrich von Hütten) als Heros; seinzartes Ehrgefühl, sein Heldentod beschämt all die glänzenden Hof-leute von Ludwigs XIV. Tafel, die der kluge Leibarzt Fagon soscharf charakterisiert.

Hier allein ist C. F. Meyer auf modernen Wegen gewandelt.Die Tragik der Unbedeutenden, der Armen im Geiste ist ein Lieb-lingsthema neuerer Autoren auf der weiten Linie von Flanbert biszu Bret Harte, von Dostojewski bis zu dem Holländer Maartens.Sie zu betonen, entspricht der demokratischen Tendenz unserer Zeit,die selbst in der poetischen Stosfwahl die überragenden Gipfel geruvermeidet. Meyer war sonst unmodern, antimodern; er stand derKunstlehre und Übung unserer Klassiker näher als seine Zeitgenossen