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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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554
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554 1850-1860.

Kommentare können auch alle kunstvollen Gemälde von LocustasSchenke oder dem Bacchanal, von dem Tod Agrippinas oder demBrand Roms nicht forthelfen. Zndem schwimmen diese selbst nurwie die Prachtstücke von dem gescheiterten Schiff Agrivpinas aufder Flut der unübersichtlichen, verkünstelten Fabel. Die Begegnungder beiden Hauptfiguren bleibt zufällig, wie das Ende Neros; unddie Art, wie Seneca zum Tode geschickt wird, wirkt mehr lächerlichals ergreifend.

Viel bedeutender ist derKönig von Sion" (1869) wennnicht Hamerlings bestes, so jedenfalls sein hervorragendstes Werk.Den Kamps zwischen Entsagung und Lebensgenuß haben im Grundeall seine größeren Werke zum Hauptthema. Wie die Urchristenund Nero, wie Robespierre und Danton , wie die Philosophen undAspasia , so stehen sich hier die beiden Seiten des Wiedertäufertumsgegenüber: die fanatische Weltflucht schlägt in gierigen Lebensgenußum, auf die Propheten Matthiesen und Rottmann folgen die Krech-ting und Knipperdolling. In milderer Form wird das gleicheThema in dem LustspielLord Lucifer" (1880) abgehandelt:der Pessimist, dem im Lichte seiner zu hoch gespannten Forderungenkein Ding begehrenswert schien, und die Optimistin, auf die die erstebeste fchöne Außenseite verführerisch wirkt, werden beide durchdie Erkenntnis ihrer Schwächen zu einem weniger überschweng-lichen, aber gesicherten Lebensgenuß bekehrt. Nur war Hamerling gar zu wenig Psycholog. Die Scheu der Zeit vor wahrer Ver-tiefung zeigt sich nicht am wenigsten in dieser oberflächlichen Be-handlung der Seele. Ein Wort genügt (wie bei Jordan), um denCharakter zu wenden. Auf einmal wird derredliche Knipper-dolling" zur Untreue verleitet. Und Jan selbst ist keine Individu-alität; er ist nur ein Blender, einschöner Mann". Das lockendprachtvolle Problem, wie in dem Idealisten die Enttäuschung denweltverachtenden Materialismus erzeugt, hat Hamerling ganz äußer-lich angefaßt. Statt der seelischen Entwickelungen besorgen ab-strakte Typen die nötigen Drehungen: Divara, das dämonische Weibmit philosophischem Hintergrund, Krechting, der buckelige Intrigant,über dessen eigentliche Motive man nicht recht klar wird. Dafürwird die Absicht des Dichters wieder jedesmal mit größter Deut-lichkeit unterstrichen. Der Verfasser teilt uns mit, Jans Verzweif-lung habe sich zu göttlicher Ironie geläutert; zu zeigen vermag eres nicht. Krechting, wird uns immer wieder eingeschärft, vertritt