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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18501860.

Leuthold und Heyse ist ein Schritt auf das demokratische Kunst-prinzip unserer Tage zu: indem sie von dem allgemein gültigenFormenideal Geibels zu persönlicheren Rhythmen übergingen, be-reiteten sie die Tage vor, in denen eine neue Kunst aus den Indi-vidualitäten heraus neue Ideale und einen neuen Stil gebärenkonnte. Vor allem kam aber der Prosa die Feinheit der Kritik,die Eleganz des Essays, die Sprachsicherheit der Frau v. Ebnernnd die Sprachschönheit Heyses dauernd zu gute. Erst dies Jahr-zehnt hat das Deutsch Gutzkows sür immer überwunden; erst seineAutoren haben die klassische Prosa Goethes wieder in ihre vollenRechte eingesetzt.

Wenn ein Kritiker wie Robert Prutz 1859 die Litteratur seinerTage übersah, so kam er zu recht pessimistischem Urteil. Er hat zwardie bedeutendsten lebenden Talente, Friedrich Hebbel und GottfriedKeller , und die am meisten für die Zeit bezeichnenden Erscheinungen,Auerbach und Freytag, richtig herausgegriffen. Freilich, Riehl,Spielhagen und andere, die schon aufgetreten waren, nennt er nochnicht, und die Münchener Epigonen überschätzt er. Vor allem aber:die mißmutige Stimmung, die aus der Zeit heraus auch den an-fliegt, der über sie hinaussehen will, verlegt ihm die Witterung fürdie Keimkraft dieser ganzen Epoche. Die mißlungenen Experimentesieht er; ihre tiefere Bedeutung nicht. Die alten Kräfte, die nochimmer meist genannten Männer früherer Entwickelungen, verdeckenihm den Blick auf die großen Tendenzen der Jüngeren. Dies Bei-spiel, dem eine typische Bedeutung nicht fehlt, möge auch uns er-mutigen, wenn wir in der Gegenwart oft zu wenig Dauerndes, zuviel Verfehltes zu erblicken glauben!