630 1860—1870.
Stark wuchs der Einfluß der Zeituugeu. Auch „vornehme"Schriftsteller traten dem Journalismus näher, als ein Geibel ge-duldet hätte; die aus Frankreich stammende Sitte, Romane zuerstbruchstückweise „unter dem Strich" erscheinen zn lassen, wurde nunauch von Auerbach, Heyse, Spielhagen aufgenommen. Doch tratendie Kritiker, denen sonst die Zeitung weitreichenden Einfluß ver-schafft hatte, neben den Politikern allmählich in den Hintergrund.Auch die Zeitschriften und Familienblätter die seit 1846 — demGründungsjahr der Westermannschen Illustrierten Monatshefte —in laugsamer Entwickelung fortschritten, eroberte» durch politischeAnteilnahme weitere Kreise — die liberale schon 1852 begründete„Gartenlaube" sowohl wie ihr konservativer Gegenpart „Daheim"(seit 1864).
Am schroffsten war die Scheidung auf religiösem Gebiet.Wenn die Frommen aus der Intensität ihres Gefühls heraus fürden Zweifel und die Ablehnung anderer überhaupt nur selten Ver-ständnis zeigen, so war jetzt auch den „Aufgeklarten " die Empfindungfür das Wesen und die Bedeutung religiöser Gefühle fast ganzverloren gegangen. Ein platter Rationalismus, der sich gern theo-retisch als unüberwindlicher Materialismus gebürdete, und eineOrthodoxie ohne werbende Kraft standen sich mit kalt erbitterterFeindschaft gegenüber. Hier und dort beging man Fehler, die sichiu den Jahren des „Kulturkampfs" rächen sollten. Auf ein neuesAnwachsen individuellen religiösen Empfindens war man in demeinen Lager so wenig wie in dem andern vorbereitet. Überwiegendwar man Pessimistisch gestimmt; ans religiöser Begeisterung konnteso wenig wie aus patriotischem Enthusiasmus in dieser Zeit derkleinen Kämpfe der neue weltschmerzliche Mysticismus eines Eduardv. Hartmann (geb. 1842 in Berlin ), des vom Offizier znm Mode-philosophen avancierten unermüdlich fleißigen und schreiblustigenPropheten des „Unbewußten ", bekämpft werden. In ihm erlebtedie aschgraue Spekulation ihre letzten Triumphe auch auf ästhe-tischem Gebiet, wenn der Philosoph s. priori bewies, „Romeo undJulia" und „Tasso" seien gänzlich verfehlte Kunstwerke. Die that-kräftigere Philosophie eines Dühriug, die energische Weltauffassungeines Haeckel, die tapfere Freude am Lebensrätsel, die Nietzsche be-seelte — sie hatten erst langsam und allmählich durch den Nebel einerbequemen Verzweiflung durchzudringen. Auch in der Poesie kamSchopenhauer durch Raabe uud Grisebach zu neuer Macht, während