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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Dührings Weltanschauung.

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ristisch, daß er Ludwig Feuerbach , den er übrigens hochstellt (unddem er nächst den Encyklopädisten und Schopenhauer das meiste ver-dankt), rügt, weil erdie ökonomische Selbstbeschränknng einesSokrates oder eines Spinoza " zu üben verschmäht habe. Dühringselbst hat sein Leben mit bewundernswerter Kraft auf die Basis derwirklichen Verhältnisse gestellt. Aus kleinen Verhältnissen hervor-gegangen, hat er sich eine vielseitige Bildung und durch seineSchriften so gut wie durch seine Anspruchslosigkeit eine ökonomischgesicherte Stellung erarbeitet. Den rastlos Lesenden und Schrei-benden traf das schwere Verhängnis der Erblindung. Er ertrugsie tapfer. Daß er immer herber uud fchärfer wurde, daß erfeine Jllusionsfeindlichkeit gern bis zum Anzweifeln auch berech-tigter Größen trieb unddie Energie im Für nicht von der imGegen trennen" wollte, das freilich war kaum zu vermeiden.So kam er in Konflikte, und es wird heut wohl kaum nochjemand bezweifeln, daß die Stärkeren gegen den erblindeten armenMann zu hart vorgingen. Er verlor (1877) seine Stellung alsPrivatdocent an der Berliner Universität. Doch fehlte es nichtan eifrigen Anhängern, die bald auch zur Überschätzung des Mär-tyrers kamen. Er soll nunder größte Mann unserer Zeit" sein,seine auf Reformation des socialen und wissenschaftlichen Lebensgerichtete Tendenz, die einem durch nationale Rücksichten ein-geschränkten Individualismus gleich scharfe Waffen gegen Social-demokratie und Reaktion entnimmt, sollte völlig einzig dastehen u. s. w.Diese Konventikel, in denen die Verehrer Dührings mit dem vollenRadikalismus einer giftgeschwollenen Orthodoxie jeden Zweifler ver-dammen; diese Zeitschriften und Schriften derAntikraten", dieseStandreden dessocialitären Bundes" vermögen doch gegen dieBedeutung des Propheten selbst so wenig zn zeugen wie etwa dieAusschreitungen der-Wagnerianer gegen Richard Wagners Stellung.Der mittelgroße Mannmit großen blauen Augen, starkem blondem,zur Seite gescheiteltem Haar, hochgewölbter Stirn und feinendurchgeistigten Gesichtszügen", im persönlichen Umgange freundlichund bescheiden, öffentlich ein starkes Selbstgefühl rücksichtslos zurSchau tragend, bietet für wirklich berechtigte Verehrung immer nochGrund geuug, auch wenn man seine Eitelkeiten und Einseitigkeiten,die Leidenschaftlichkeit seines Kampfes gegen Juden und Professoren,die häßliche Leichtfertigkeit seiner Anklagen gegen Lessing , Heine,Helmholtz nicht übersieht. Von allen Anfechtungen unbeirrt geht

Meycr, Litteratur. 41