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1870-1880,
Wildenbruch : er haftet an dem sinnlich wahrnehmbaren Ausdruckgroßer Erregungen, er bedarf überall starker Gesteu, lauter Worte,leidenschaftlicher Konflikte. Das Stille, das Dauernde, die hoheMacht der Ruhe existiert für ihn nicht. Aus der Zeit nach Goethe,aus der modernen Ehrfurcht vor mächtigen ernsten Gesetzen sindwir zurückgeworfen in eine Weltanschauung, die mir eine Ent-wickelung in Katastrophen kennt — ja, für die die Entwickelungnur um der schönen Katastrophen willen da ist. Wildenbruch , iudessen Adern Hohenzollernblut fließt, den der Zufall — den „vater-ländischen Dichter"! — im Orient geboren werden ließ, er besitztdurchaus jene Freude der Hohenzollern am pathetischen Moment; erliebt es, wie Friedrich I. im Krönungsmantel zu erscheinen, Geisterzu beschwören wie Friedrich Wilhelm II. , Dome einzuweihen wieFriedrich Wilhelm IV. ; er liebt es, in feierlicher Pracht und mitsymbolischen Gebärden einherzuziehen, wie die Fürsten des Morgen-landes. Der Moment, in dem das Mitgefühl mit seinen Figurenihn zu einem wahren Rausch der Empfindung hinreißt, ist fürdiesen modernen Nomantiker das eigentliche Ziel der dichterischenSehnsucht: der Augenblick, wo der seiner Kinder beraubte düstereOffizier die Faust verwünschend gegen den Himmel erhebt („Kinder-thränen" 1884) oder der arme Kadett an einer zerstörenden Er-fahrung stirbt („Das edle Blut" 1898). Vom ersten Augenblickan wird die ganze Erzählung auf solche Momente zugestutzt („No-vellen" 1883, „Neue Novellen" 1885); düstere, unheimliche, krankeFiguren („Eifernde Liebe" 1893, „Das wandernde Licht" 1897),in seltsame Schicksale verstrickt, Märtyrer („Claudias Garten"1896), kurz Männer des anschaulich schweren Schicksals werdenauf die Bühne gestellt und zu stürmischem Verderben oder un-wahrscheinlicher Rettung hingerissen. Dennoch aber — all dieseLeidenschaft bleibt uns äußerlich, wir sehen nur die Gesten, diewilden Bewegungen, wir hören das Herz nicht schlagen. Alle Er-zählungen Wildcnbruchs wirken wie Pantomimen. Da wanderthinter den Fenstern eines düsteren Schlosses ein Licht hin uud her —wir ahnen Schauerliches, wir denken an verwandte ErzählungenE. Th. A. Hoffmanns; schließlich handelt es sich um die fixe Ideeeines verrückten Dieners, der feinen Herrn geisteskrank glaubtund sast geisteskrank macht. Denn auch Wildenbruch, wie OttoLudwig , geht aus vom Anblick packender Situationen; und darinliegt das gnte Teil echt dramatischer Begabung, das er besitzt.