704 1370—1880.
Odysseus morgen nochmals in das Boot steigt? Und dennoch— so lebhaft sind die Gebärden, so wild ist der Schrei, daß wirunter seinem Eindruck bleiben, daß wir dem Dichter das Unwahr-scheinliche zuzugestehen bereit sind. Freilich, ermüdet er uns durchBalladen von ungebührlicher Länge („Die letzte Pflicht", „DesParsen Gebet"), so treten die Mängel des Epikers zu stark hervor,als daß der Lyriker ihn retten könnte. Uud auch dem schadet seineNeigung für das Laute, Sinnlich-Wirksame. „Kein Pianissimoohne Pauken." Bei Wildenbruch ziehen sogar die träumendenFrühlingsgedanken „sausend und brausend" über die Erde. JenerReiz, stille Zustände sich selbst aussprechen zu lasseu, ist ihm ver-sagt; das muß er Goethe und Lenau und Morike und Stormüberlassen. Aber was der Mensch laut aussprechen kann, das ver-künden seine Wirkungsvolleu Gelegenheitsgedichte („Kaiser WilhelmsTod", „Auf Richard Wagners Tod", „Auf Wilhelm Scherers Tod",„Ihr habt es gewagt!") stark und mächtig. Denn dieser leiden-schaftlichen Seele ist es ernst mit dem Miterleben. Hier ist eingreifbares Ereignis: der Tod eines Helden, ein unbegreiflicherParlamentsbeschluß, ein Jubiläum. Da tritt er heran, wie inder heroischen Poesie der Urzeit der Vorsäuger au die Bahredes Häuptlings oder an den Altar trat: als Vorsprecher seinesVolkes, das er in einer Empfindung einig weiß, uud stark hervor-quellend, regellos, unmittelbar findet diese Empfindung Ausdruck.
Heinrich v. Kleist darf im ganzen wohl der Schutzpatronder dramatischen Thätigkeit Wildenbruchs heißen. Nur ebeu —man könnte Wildenbruch doch uur einen verüußerlichten Kleist nennen.Die Psychologie, das heißt die Erkenntnis seelischer Notwendigkeiten,ist ersetzt durch eiue sast willkürliche Folge äußerer Handlungen;die Individualisierung, die einen Kottwitz und einen Kohlhnas undall die Gestalten des „Zerbrochenen Krugs" schuf, ist verdrängt durchein Arbeiten mit festen Typen und Rollenfächern: der patriotischeAlte, der Jntriguant, der zwischen dem schwarzen und dem WeißenEngel stehende Fürst. Die bei Kleist je nach der Situation soganz verschieden schimmernde Sprache wird einer gleichmüßigen Auf-geregtheit geopfert. Manche Dramen Wildenbrnchs sind drama-tisierter Treitschke: der „Neue Herr" (1891) ist so einseitig undungerecht, so übermäßig pathetisch und so wenig Psychologisch wiegewisse Partien in der „Deutschen Geschichte". Aber bei anderngeht das zügellose Behagen am Pathos noch weit über das hinans,