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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Die blonde Bestie". 725

bloß seliger Beschauer sein, nicht bloß Künstler nnd nicht bloßDenker. Jeder Augenblick soll in ihm alle Keime reifen, die ge-nügend entwickelt daliegen. DiePersönlichkeit" ist für Nietzsche nichts anderes als die Möglichkeit zn gewissen Erlebnissen. DieStärke des Temperaments, die Kraft der Organe, die Konzentrationdes Willens bestimmen die Bedeutung des Einzelnen.

Will man es grob ausdrücken, so darf man sagen: Nietzsche erwartet von der Zukunft der Menschheit vor allem eine gesteigerteGesundheit. Keine Nervosität, der es vor den Ohren surrt undvor den Augen flirrt, wenn wir hören und sehen sollen; keine Ab-spannung, keine Müdigkeit, keine partielle Lähmung und Ver-kümmerung. Dies Ideal hat er gern mit dem symbolischen Begriffderblonden Bestie" bezeichnet. Der rücksichtslos gesunde Menschder Urzeit stand diesem Bilde immer noch näher als der verfeinerteDekadent mit seiner specialistischen Arbeitsteilung, dem Arbeit nndGenuß, Moment der Abspannung und der Energie wie getrennteWelten auseinanderfallen. Daß gleichwohl jener Ausdruck nnrsymbolisch ist, das hätte man nie verkennen dürfen. Die rohestumpfe Gesundheit ist für viele Dinge mindestens so unempfindlichwie die raffinierte Kränklichkeit. Das übergesunde Mädchen vomLande verliert von den Genüssen der Wirklichkeit mindestens soviel wie der zarte Träumer in der Studierstube. Trotzig, paradoxwarf Nietzsche der Selbstanbetung einer intellektuellen und mo-ralischen Überkultur, die zu vollständiger Verkümmerung gewisserfeinerer Organe des modernen Menschen geführt hatte, dieblondeBestie" entgegen. Er war eben ein Dichter und bedürfte derSymbole. Hätte er trocken wie Hegel auseinandergesetzt, er ver-lange ein gewisses Maß von überströmender Gesundheit, so hätteer weniger Widerspruch befahren; nun warf sich die Oberflächlichkeitauf dies Symbol und glaubte Nietzsche als Propheten der Bar-barei darstellen zu dürfen, weil er die an Hypertrophie bestimmterEinzelorgane krankende Überkultnr heilen wollte!

Giebt man jenes Ideal einer Höherbilduug der gesamten Mensch-heit zu, so muß man auch zugestehen:Tausend Ziele gab es bis-her, denn tausend Volker gab es .. . Noch hat die Menschheit keinZiel." Kein Ziel in diesem Sinne ist die einseitige Ausbildung zuirgend einem einzelnen religiösen Ideal, denn bei jedem verkümmernAnlagen der Menschheit: die kriegerische vielleicht, wie beim christ-lichen Pietismus , die realistisch-künstlerische, wie bei den Religionen