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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18701880.

des Orients, die wissenschaftliche, wie bei jeder Orthodoxie. KeinZiel in diesem Sinne sind die Volksindividualitäten, denn auch vonihnen bildet jede nur bestimmte Seiten aus: das deutsche Idealenthält nichts von der reizenden Grazie Frankreichs , das fran-zösische nichts von der gesammelten Kraft Deutschlands . Wer demEuropäer " zustrebt, für den sindsolche atavistische Anfülle vonVaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden": Durchgangs-punkte in der Entwickelung sind ihm der Deutsche und der Romanewie der Grieche und der Hebräer. Nietzsche ist deshalb doch einfeuriger Patriot gewesen. Deutschland liebte er uicht, und dieDeutschen hat er so oft und hart gescholten wie viele andere guteVaterlandsfreunde: Luther, Borne, Treitschke; es war doch vor allemdas eigene Volk, an dessen Hebung und Veredelung er dachte, undgekränkte Liebe machte seine Rüge scharf. Noch weniger als diegroßen Organismen, Volk, Kirche, können Organisationen mehräußerlicher Art ein Endziel der Menschheit sein. Den Staat vorallem, vor dem seit Hegel die Moralphilosophie anbetend auf denKnieen lag und der etwa für Treitschke der Gott auf Erden war,ist für Nietzsche dernene Götze", den er fast mit dem Zorn derRomantiker haßt:Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer.Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ,Jch,der Staat, bin das Volk' Lüge ist's! Schaffende waren es,die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebeüber sie hin: also dienten sie dem Leben. Vernichter sind es,die stellen Fallen auf für viele und heißen sie Staat.." Ver-nichter; denn was hemmt stärker die freie Individualität der Kraft,beim Einzelnen wie beim Volk, als der moderne Staat mit seinerHärte, seiner Fühllosigkeit für das angeborene Recht, seiner ganzenmühsamen Barbarei? Auch der Staat in dieser Form ist etwas, dasüberwunden werden mnß. Aber auch die Wissenschaft als un-bedingt Äußerstes ist ein Götze; der Geist derunbefleckten Er-kenntnis" verstümmelt das freie Wollen. Und so hat Nietzsche nochviele Überwindungen und Häutungen zu lehren.

Der so glühenden Herzens den unendlichen Reichtümern der Welt,den unerschöpflichen Inhalten des Lebens nachsann wie Hütte irgendetwas ihm genügen sollen, das fertig dalag? Nation, Wissen, Sitte,Kunst, Individualität: Aufforderungen zur Höherbildung war es ihmalles. Nur kein Rnhen nur kein Versäumen; alles gilt es zubenutzen, damit dereinst das Bibelwort erfüllt sei:Alles ist euer!"