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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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18701880.

Erleben neuer Offenbarungen mehr als das volle Auskosten derWirklichkeit. Nietzsche ward Zarathustra eine Schöpfung vonwundersamem poetischem Reiz, aber stilisiert und nicht mehr vonder ganzen Lebensfülle des Menschen durchpulst. Das wundervolletrunkene Lied" verkündigt uns, wie diese Traumwelt aufstieg:

Die Welt ist tief,

Und tiefer, als der Tag gedacht.

Tief ist ihr Weh

Lust tiefer noch als Herzeleid:

Weh spricht: Vergeh!

Doch alle Lust will Ewigkeit

Will tiefe, tiefe Ewigkeit.

So hat er sich an der wunderbaren Rätselfülle des Lebens,an dem unerschöpflichen Reiz der Existenz berauscht, daß eine end-lose Zeit als Perspektive ihm nicht genügt: wir sehen das Endenicht, darnm erscheint die Linie uns begrenzt. Sinnlich endlos,unbegrenzt für unsere Wahrnehmung ist nnr der Kreis.AlleWahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis." In dem immerwiederkehrenden Kreislauf haben wir die tiefe Ewigkeit gleichsamgreifbar. Nichts nutzt sich ab; kein Jüngster Tag. Und so schwelgtder Liebhaber des Lebens in der Idee:Nie hörte ich Göttlicheres!"Immer wird es wiederkehren, immer steigen, immer sinken, sichverdüstern, sich verklären, so hat Brama dies gewollt." Aberkeinerlei Erfahrung nnd keinerlei Wahrscheinlichkeitsrechnung derWelt kann dies Dogma von derWiederkehr des Gleichen" ausder Sphäre des Mythisch-Symbolischen in die philosophischerErkenntnis zaubern. Daß die großen Grundelemente immer wieder-kehren werden, Chaos,Schöpfung ", Blühen und Vergehen; daßdie großen Typen sich im Wechsel behaupten; daß jeder Momentverwandt ist mit einem Moment fernster Zeiten das glaubenauch wir mit Herder und Goethe; daß der Einzelne, daß das Ein-zelne,diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumenund ebenso dieser Augenblick nnd ich selber" ewig wiederkehren,das scheint uns überreizte Vergötterung des Einzelnen. Und derKultus des Wirklichen scheint uns hier in Selbstvernichtung umzu-schlagen. Denn ist nicht eben dies das Köstlichste an jedem Dingund jedem Menschen und jedem Geschehnis, daß es nur einmalwar und nie wieder so sein wird? daß alle Mächte in Raum undZeit zusammenwirken müssen, um diese Spinne hervorzubringen