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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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729
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Nietzsche als Künstler. 739

und dies Mondlicht zwischen den Bäumen, die sie niemals, niemalswieder ebenso, gerade hier, gerade so hervorbringen können?Ach,und in demselben Flusse schwimmst dn nicht zum zweitenmal!"

Und doch! Wir möchten auch diesen heroischen Irrtum nichtmissen. Er ist so charakteristisch; er bringt uns das Tiefste,Menschlich-Allznmenschliche in dem sonst so Unnahbaren näher.Wir erkennen hier in dem Denker, dem sonst das Zerstören auchder eigenen Lieblingsgedanken denn Lieblingsgedanken sind immerVorurteile eine grausam-süße Gewohnheit war, den Primat desWillens über den Intellekt: trotz allem uud allem muß der Geist,der Klarheit will, dem dunkeln Verlangen nach schönen Träumengehorchen.

Und vor allem: deutlich tritt uns hier die künstlerische Naturvon Nietzsches Denken entgegen. Künstlerisch ist wirklich schon seinDenken selbst nicht etwa bloß die Form, die er ihm giebt. Lehr-gedichte sind seine besten Werke nicht in der Art der Jordan undHamerling, die ihre Anschauungen in Verse bringen, sondern inder Art der Weisen des Altertums, des Auaxagoras, ja noch desPlaton, denen Denken und Dichten eins war. So intensiv erfaßter jedes Problem, daß er es wie ein Ereignis durchlebt, und inlyrischer Kraft giebt sein Bericht den ganzenZustand" des Durch-lebens wieder. Daher auch die wunderbare Unmittelbarkeit seinerAphorismen. Nach langer Gedankenvorbereitung brechen sie plötz-lich hervor, ein prächtiger Blütenregen, wie die Gedichte von GoethesWestöstlichem Divan". Sein Hauptwerk, denZarathustra ",schrieb er so ganz in der Inspiration des Sehers, daß er zu keinemder drei ersten Teile mehr als zehn Tage brauchte. Er ging undseine Gedanken flogen auf das Papier.

Zur Gestaltung, heißt es in der monumentalen Ausgabe, kam der ersteTeil in deranmutig stillen Bucht" vvn Ravallo uuweit Genua , woNietzsche den Januar und Februar 1883 verlebte.Den Vormittag stiegich in südlicher Richtung auf der herrlichen Straße nach Zoagli hin in dieHöhe, an Ruinen vorbei und weitaus das Meer überschauend; des Nach-mittags umging ich die ganze Bucht von Santa Marghcrita bis hinterPortofino, Auf diesen beiden Wegen fiel mir der ganze erste Zarathnstrnein, vor allem Zarathnstrn selber, als Tyvns: richtiger, er überfiel mich."

Der zweite Teil entstand in Sils Maria ; der dritteunterdem halkyonischen Himmel Nizzas".Jene entscheidende Partie,welche den Titel: ,Von alten und neuen Tafeln' trügt, wurde inbeschwerlichstem Aufsteigen von der Station zu dem wunderbaren