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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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730
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730 1870-1880.

maurischen Felsennest Eza gedichtet." Es ist etwas Symbolischesdarin, wie er im Bergsteigen dichtet, Philosoph und Lyriker zu-gleich. Schlägt sein Herz gierig der Wonne aufregenden Gedanken-kampfes entgegen, so fühlt es doch im selben Augenblick auch dasGlück der dichterischen Befreiung schon vor. So ward er, seitJahrhunderten der erste, ein Mann, dem jedes Problem des Wissenseine Aufgabe auch für das künstlerische Bezwingen ward. EtwasUnphilosophisches wird darin nur erblicken, wer den Systemzwanghöher schätzt als die rastlos um sich greifende Genialität einesGeistes, dem jedes System eben nur eine Vorbereitung ist, eineStufe. Nicht genialer Hochmut liegt darin, wenn ihm die Wonnedes philosophierenden Zustandes höher galt als die Freude an ab-geschlossenen Systemen; im Gegenteil: es ist das Mißtrauen selbstan dem eigenen Genie, was ihn lieber eine Zarathnstra-Religionerdichten als ein philosophisches System erbauen läßt. Nomantikerin der Seligkeit des erregten Gefühls teilte er mit den Roman-tikern auch die Scheu vor trockenem Fach- und Paragraphenwerk:Fragmente, Ideen, Aphorismen gab er wie Novalis und FriedrichSchlegel . Aber darin war er modern, daß die glänbige Selbstzu-friedenheit des sich genial fühlenden Menschen ihm abging, die jeneerfüllte. Der allen hergebrachten Meinungen mißtraute, mißtrauteauch dem Dogma von den offenbarenden Träumen des Genies;der argwöhnisch war gegen jede Autorität, blieb auf der Hut auchgegeu den eigenen Ausspruch. Deshalb bohrte er immer wieder an,was er selbst gezimmert hatte; deshalb mußte er, als zuletzt dochauch über ihn das Bedürfnis nach festen, dauerndenneueu Tafeln"Herr ward über den Fanatiker der ewigen Entwickelung, sich selbsttäuschen, sich selbst blenden durch einen erfundenen Halbgott, denÜbermenschen, den Über-Nietzsche Zarathustra . So entstand seineBibel, das Zarathustrabuch das wunderbarste Zeugnis für dasMenschliche und für das Göttliche in diesem einzigen Menschen.

Er hat sich gerühmt, er habe damit den Deutschen ihr tiefstesBuch gegeben. Nun, jeder Superlativ ist anfechtbar. Wir habennoch denFaust", wir haben Novalis , wir haben vielleicht auchuoch eiu oder das andere Buch von streng philosophischer Haltnng,das man neben denZarathustra " stellen könnte. Versucht manaber erusthast, deutsche (und erst recht nichtdeutsche) Bücher auf ihreVergleichbarkeit zu prüfen, so wird man sich schließlich wundern,oaß jener Ansspruch auf Größenwahn gedeutet werden konnte.