Druckschrift 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
731
Einzelbild herunterladen
 
  

Nietzsche als Denker. ?Z1

Denn wahrlich tief ist dies Buch wie nur je eins und reichan Abgründen des Denkens, bis in die noch kaum je einSenkblei der Untersuchung sich gewagt hatte. Die Grundgedankenin ihrer krystallenen Klarheit und Festigkeit sind llur die unter-irdischen Ströme, die überall eine tropische Vegetation von blenden-den, aber auch von nährenden, von berauschenden, aber auch vonheilenden Blumen und Früchten hervortreiben. Die Kritik, die inden drei ersten Büchern die großen Leistungen der bisherigen Mensch-heit, in dem vierten (das nur der Abstieg vom Gipfel ist) dieTypen ihrer Hervorbringer in unvergeßlich symbolischen Zeichnuugenhinstellt, ist nur das scharfe Beil, mit dem Nietzsche die Bäumedes Urwaldes beHaut zu einem heiligen Haus für die Andacht derZukunft.

Will man aber Nietzsche gerecht werden, so darf man sich vonseinen eigenen Ungerechtigkeiten, vor allem der gegen das Christen-tum, mit der er zu der rationalistischen Beengtheit des Aufklärungs-alters herabsinkt, nicht verblenden lassen. Nie darf man denKünstler in Nietzsche außer acht lassen. Die Freude an einemgroßartigen Kampfe spielt bei jeder Härte des Philosophen mit.Künstler ist er auch im Ausführen wie. schon im Konzipierender Gedanken. Er ist ein wahrer, wird oft ein großer Dichterdurch die Energie, mit der er seine geistigen Erlebnisse festhält.Schon rein äußerlich fallen die prachtvollen Schilderungen insAuge, etwa imZarathustra " die einer Bergwanderung:

Düster ging ich jüngst durch leichcnfarbene Dämmerung düster und- hart, mit gepreßten Lippen. Nicht nur eine Sonne war mir unter-gegangen. Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein boshafter, ein-samer, dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein Bergpsadknirschte unter dem Trotz meines Fußes. Stumm über höhnischemGeklirr von Kieseln schreitend, den Stein zertretend, der ihn gleiten ließ:also zwang mein Fuß sich auswärts.

Angeschaut ist da jede Einzelheit, und jede doch zugleich durch-geistigt, symbolisch geworden. Und welche Musik des Rhythmus!Den Rhythmus der deutschen Prosa hat niemand zu höheren Wir-kungen gebracht als Friedrich Nietzsche. Den Aphorismus, dessenkurze Geschichte bei uns erst mit Lichtenberg beginnt, hat ererst zu einer selbständigen Kunstgattung erhoben, wie HermanGrimm den Essay. Alle Künste der Abrundung, des Leitmotivs,der Anordnung, der Überschrift, eine ganz individuelle Interpunk-tion (die den Doppelpunkt charakteristisch bevorzugt), vor allem