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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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1880-1890.

Romausiune sind es alles nicht; aber es gilt Helene Böhlaus eigenesWort:Man sieht einen Menschen und denkt gar nichts dabei.Bon dem, was schön ist, ist er weit entfernt. Und mit einem-mal, wenn man sich in ihn hineindenkt, ist er so schön, so unnach-ahmlich, so voller Ausdruck, so ganz Mensch, ganz Geschichte seinesDaseins." Das ist's; damit hat die Dichterin die Schönheit desRealismus tiefsinnig charakterisiert. So ganz Mensch, ganz Ge-schichte seines Daseins soll der Einzelne sein: Natur, Leben bis indie Fingerspitzen, Notwendigkeit, innere Entwickelung bis in dashingeworfene Scherzwort hinein. So aber erfaßt nur ein Dichter-herz, nur ein Künstlerauge das, was allein dem oft so grundfalschbegründeten Realismus sein Recht giebt: die Einzigkeit jeder wahr-hasten Existenz. Und auch dem Künstler gelingt es nicht ohneernstestes Wollen. Köpperts Werke drücken das aus:Jetzt schauenwir ganz ruhig und Warten's ab, und halt still Haben'saber in einem Moment, der so intim, so erhascht, so überrumpeltist, daß die anderen ihn überhaupt nie gesehen haben. Wir lehreneuch die wunderliche Erde wie neu kennen, an der ihr vorbeilauft unddavon redet, als kenntet ihr sie." So packte Goethe seinen Valentinvor dem Zweikampf, so Ibsen seinen Hjalmar. So versteht HeleneBöhlau aber wie die Personen, so auch die Dinge zu packen nnd fest-zuhalten. Wir sehen alles vor uns: dasoriginell eingerichtete"Zimmer (die Möbel standen so gewissermaßen unternehmend da,meist an Stellen, die wahrhaft kühn gewählt waren"), die grenzenloseSchlumperei iu der Küche, die tragische Verwirrung im Operations-zimmer. Wir sitzen bei den unmöglichen Mahlzeiten, die diese furcht-baren Köchinnen dem armen so gern behaglichenGastelmeier" auf-tischen; wir sind mitten drin in dem Gewirr der Fastnachtsbälle.

Nur bei einer Figur versagt die Kunst der Verfasserin völlig.Gastelmeier, der arme glücklich-unglückliche Gatte Ollys, kann nichtstehen und gehen; er hängt nicht zusammen. Es klappt nicht. Erwird erst als braves ruhiges kleines Talent vorgeführt, einer vondenen,die still vor sich hin arbeiten, ohne Schlagwort nnd Ge-schrei". Aber schon diese Charakteristik leitet die Dichterin miteinemwie schon gesagt" ein: ein böses Zeichen: sie muß wieder-holen, sie fühlt selbst, daß der Kerl nicht recht herauskommt. Unddann wird er immer mehr in den Hintergrund gestoßen, mit eineingewissen weiblichen Rancnnegefühl behandelt; zuletzt, bei OllysTode, ist der gute Kerl nur noch ein lächerlicher Philister, ein wider-