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zeitigkeit aller Dinge: „die Staubgeschöpfe können nur nicht allesauf einmal fassen und haben es deshalb in tausend kleine Schachtelneingeteilt." Alles ganz greifbar, real gefaßt und ebenso einfachund fest dargestellt. Sehen wir aber tiefer zu, so verbirgt sichhinter dieser bei Mörike und selbst bei Kerner so gesund-humo-ristischen Mythologie eine ganz anders geartete, eine durchausmoderne, nervöse Empfindung.
„Es giebt auch Ereignisse, die nicht schlafen können", heißtes am Schluß ihrer vielleicht glänzendsten Geschichte („Mittags-gespenst" in den „Italienischen Erzählungen"). „Es giebt anchGespenster von geschehenen Dingen." Wie das? Da eine fein-organisierte Natur sich in fortwährender Bewegung befindet, somuß es Momente geben, in denen sie für den specifischen Duft einerBlume, für den eigentümlichen Atem, den eine schon vergangeneThatsache aushaucht, für die Obertöne verklungener Melodien be-sonders empfänglich ist. In diesem Moment läßt sie sich von denDingen ihr ganz subjektiv gestaltetes Abbild „suggerieren". Wasentsteht, ist die ganz persönliche Wirkung gerade dieses Ereignissesauf gerade diese Seele in gerade diesem Moment. „Es ist nur einZustand und keine Geschichte", wie es in eben jener Erzählungsehr charakteristisch heißt. „Mittagsgespenst" erzählt den ge-spenstischen Traum eines Sonderlings, der die tote, wie eine großeRuine erhaltene Stadt San Gimignano in sengender Mittagshitzebetritt und dem sie sich mit wilden Ereignissen ans dem düsterenMittelalter belebt. Das ist moderne Romantik: die Gespenster deshellen Tages aufzusuchen. Von denen der Arnim und Brentanosind sie verschieden wie die beängstigend deutlichen italienischen Ge-spenster von den „grauen oder schwarzen huschenden Schatten-gestalten des Nordens"; und sie sind darum nur um so eindrucks-voller. Es sind realistische Gespenster.
Diese Art, die feinsten Eindrücke realistisch aufzunehmen, setzteine fast krankhaft erregbare Beobachtungsgabe voraus, die jedenleisen Duft der Dinge auf seine Eigenart zu prüfen weiß. Darinliegt die außerordentliche Bedeutung dieser tief grabenden Psycho-logischen Kunst. Die Dichterin konstruiert sich Naturen von speci-fischer Anlage, fühlt sich mit poetischer Energie in ihr Schauen einund betrachtet nun aus ihnen heraus die reale Welt — nicht umdes Bildes dieser Welt willen, sondern um der Eindrücke willen,die sie so gewinnt. Sie versetzt sich („Haschisch", in den „Märchen")