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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Eigenart der Isolde Kurz .

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ist Lyriker. Und unter den vielen, die in dieser Zeit lyrische Ge-dichte machen, steht in der That Isolde Kurz da mit der ganzenSeltenheit einer echt lyrischen Natur. IhreGedichte" (zuerst1889) bilden ein schmales Bändchen; aber wenig Gedichtsammlungenin deutscher Sprache enthalten mehr echte Poesie. Zustandsschilde-rung ist alles. DieBallade" fehlt ganz; selbst wo eine grausigeBegebenheit mitgeteilt wird (Die Hochzeit in der Mühle"), istdie Erzählung ganz in Stimmung aufgelöst, so sehr, daß dieDeutlichkeit leidet. Fremde Einflüsse fehlen nicht völlig, mehr ausder benachbarten Kunst Böcklius (Mittag am Meer"), als ausder Litteratur, wenn auch Goethes wundervollerEwiger Jude "aufDie Nazarener" gewirkt hat. Im wesentlichen erscheint docheine durchaus originelle Persönlichkeit. Die Reflexionspoesie mitihrer herben Skepsis (Zukunftsgedanken,,; Sinngedichte) könnteman noch allenfalls in die Zeit Scheffels uud seiner Nachfolgerzurückdatieren; aber schon ein Gedicht wieWeltgericht" mit dergroßartig gedachten, rein ästhetischen Würdigung des Weltganzengehört nur in die Tage Nietzsches. Modern aber sind vor allemdie rein lyrischen Poesien. Auch hier löst sie von den vorüber-gehenden Erscheinungen den Duft, um ihn mit Zauberkunst inseiner ganzen Frische in die krystallklare Form eines Gedichts zubannen. So in dem ganz individuellenFrühliugslied", so vorallem in der wundervollen ReiheAsphodill".Lunt laorim^srsrura", sagt Vergil , und der skeptische Kritiker Lemaitre fand indiesem Ausspruch die Hälfte seiner Berühmtheit begründet. DieDinge selbst weinen zu lassen, ihre Thränen (wie in der Mythevon Phacthon) zu goldhellen Schmuckstücken zu verdichten dasist die Kunst dieser lyrischen Nealistin. Wie der Tod des Geliebtenin der Überlebenden täglich andere Empfindungen erweckt, wie erfortwirkend immer neueGespenster der Ereignisse" ausschickt, aberitalienische, klar, hell, greifbar zu sehende das spiegelt sich indiesen ergreifendsten Totenklagen der neueren Lyrik. Vergleicht mansie mit den schönen Gedichten, die Heyse dem Tod seiner Kinder,Geibel und Hopfen dem ihrer Frauen gewidmet haben, fo sieht mandie Linie der Entwickelung, die von Isolde Kurz dann weiter zuStefan George und seinem Kreis führt: immer feinere Ablösungenvom Grob-Thatsächlichen, immer intensivere Versenkung in dieRealität der Empfindung, immer kunstvollere Abruudung zu einemrein lyrischen Gebilde nur Zustaud, keiue Erzählung. Die iunere