Der Kampf um die „Wahrheit". 795
Entstellung des Realismus in eine antiidealistische Häßlichmalerei,die so unwahr ist wie die idealistische Schönmalerei Älterer, vorerstbewahrt; bewahrt gerade deshalb, weil man schaffensfreudig war,weil der unendliche Reiz des wirklichen Lebens als eines küustlerischfruchtbaren Problems der Generation nach Nietzsche — mit undohne sein Znthun — neu aufgegangen war. Aus diesem gesundenQuell ist der Strom des neuern Realismus hervorgegangen, so gutwie bei Rubens und den alten Holländern: auch Jan Steen warein Bummler, wenn auch ein genialerer als die jnngen Poeten,die dies Kostüm anlegten. Man kann es nicht leugnen: bei diesenjungen Leuten, die das Leben bis in seine letzten Perversitäten zukennen vorgaben, ward man öfters an den Berliner Opernsängererinnert, dem ein bis dahin mißtrauischer Hotelbesitzer sofort unbe-denklich seine Tochter znr Braut gab, nachdem er ihn als DonJuan gesehen hatte. Der krampfhafte Realismus mancher deutscherZolaisten. war nur eine Reaktion gegen zu viel „Tugend"; wiejener Musterknabe es sich als Belohnung ausbat, fünfzehnmal„Schwein!" sagen zu dürfen. Arno Holz hatte zunächst ein „Gedenk-buch" an Emanuel Geibel (1884) herausgegeben; auch Sudermannsteuerte sich erst allmählich in den Realismus hinüber.
Aber selbst als die „Modernen" sich darüber klar wurden,daß sie Realisten sein wollten, war damit noch nicht allzu viel ge-sagt. Zunächst freilich schien damit oder mit Zolas Parole „Na-turalisinus" alles entschieden. Man erklärte einfach, nur die Wahr-heit geben zu Wolleu. Immer wieder wurde von den Theoretikernwie von den Praktikern wiederholt, „Schönheit" sei ein unklarer,unfaßbarer Begriff, „Wahrheit" allein sei zu erstreben, wobei OttoBrahm (geb. 1856) und Paul Schlenther (geb. 1854), die tapfer-sten und erfolgreichsten kritischen Verfechter des deutschen Realis-mus, durch Citate aus Goethe und Schiller den Zusammenhangmit den Klassikern wiederherzustellen versuchten. Gewiß war eineVerwandtschaft mit deren Anfängen in „Sturm und Drang " da;aber ihre Entwickelung zeigte doch am allerdeutlichsten, daß derBegriff „Wahrheit" mindestens so vieldeutig, so subjektiv, so un-faßbar ist wie „Schönheit". Hat denn Goethe in seinen stilisiertestenProdukten nicht erst recht Wahrheit, die höhere Wahrheit, dieeigentliche Wahrheit im Gegensatz zu der „bloßen Naturnach-ahmung" geben wollen? Aber wenn man um 1890 herumdie Pilatussrage aufwarf: „Was ist Wahrheit?", so erhielt man