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1880—1890,
einfach und kurz die Antwort: „die Wahrheit!" Thatsächlich ver-standen doch die jungen Realisten das Verschiedenste darunter. Dieeinen erklärte,: die Individualität, die Einzelpersönlichkeit für daseinzig Wahre und wiederholten Bleihtreus Formel: „Subjektivitätist Wahrheit"; oder sie lösten die Persönlichkeit noch weiter auf inihre Momente, Stimmungen, Seelenzustände; so die Wiener Schule,unter dem Einfluß der französischen psychologischen Analyse einesBourget. Im Gegensatze zu diesem nervösen Realismus hielt sichein derber naiver Naturalismus einfach an die „Gegenstände" undsah in der möglichst genauen Wiedergabe der sinnlich wahrnehm-baren Dinge und Vorgänge das letzte Ziel der Kunst: wie Bleibtreu,Bahr, Hart die Erregungen der Seele, so malten Holz, Schlaf,Hauptmann deren Ursachen. Beides schien dem social-idealistischenRealismus Teil- und Stückwerk; er leugnete die Realität des Ein-zelnen: es giebt nur Massenbewegungen, Massenerregungen. Aufdiese Weise kam, auch abgesehen von der gleichsam zufälligenpolitischen Tendenz eines Henckell — junge Dichter sind immerradikal; selbst die Reichsgrasen von Stolberg waren im „Hain"theoretische Tyrannenmörder — eine stark sociale Richtung in denRealismus eines Kretzer oder Polenz. — So weit gingen die Auf-fassungen der „Wahrheit" auseinander. Objektivität uud Subjek-tivität, mikroskopische Momentphotographie uud Arbeiten mit großenGegensätzen wie Arm und Reich, Mann und Weib (bei HeleneBöhlau u. a.) vertrugen sich unter dieser Uniform. Jeder warnaiv überzeugt, daß er die Wahrheit über die Wahrheit besitze.
Aber gerade diese Naivität, diese ehrliche Überzeugtheit machteden jungen Realismus fruchtbar. Nach und nach verjüngte er erstden Roman, dann, stärker und tiefer, das Drama, endlich, viel-leicht in der merkwürdigsten Weise, die Lyrik.
Den Roman sahen wir schon von jenen, die neuen Geistin alte Form zu bringen suchten, als Lieblingsmittel benutzt. Erscheint die bequemste Knnstgattung, jeder Tendenz am leichtestendienend, und durch das stoffliche Interesse, das er am stärksten mitsich führt, wirbt er leichter als die spröderen Gattungen. Dazu istgerade in unserem traditionsfeindlichen Vaterlande die Kunstformdes Romans — anders als in Frankreich ! — so locker, daß sieden Neuerern kaum Widerstand zu bieten schien.
Die realistische Theorie betonte sehr stark das ältere Wort,daß es in der Kunst nur auf das Wie, gar uicht auf das Was