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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18801890.

bach" Kretzer seinem dritten Lehrer ein Denkmal gesetzt hat. Der Fort-schritt über Spielhagens Realismus hinaus besteht wesentlich darin,daß Kretzer damals bereits die Berliner Tiergartenstraßc, die in derSturmflut" Parkstraße heißt, Tiergartenstraße nennen wollte; wasaber sein Verleger nicht erlaubte. Spricht doch Wilbrandt heute nochetwa von der alten Hansestadt am Meer, die er um Himmels willennichtRostock" nennt. Im übrigen aber hatte Kretzer weder in derFabel die Lust an romanhaften Abenteuern noch im Stil das ge-dunsene Papierdeutsch überwunden, durch die unser deutscher Dnrch-schnittsroman so weit hinter seinen französischen oder nordischenKonkurrenten zurückbleibt. Auch die seltsame Nachlässigkeit, mitder sich deutsche Autoren gegen die einfachsten Thatsachen zu be-nehmen Pflegen, die sie zufällig nicht genauer kennen, hat der RealistKretzer so wenig abgelegt wie Schriftsteller anderer Richtungen.Kretzer läßt einen illegitimen Sohn ein Fideikommiß erben wie-Paul Lindau (in derGräfin Lea") eine Frau; Wolzogen läßt (imKraft-Mayr") einen Organistensohn aus Bayreuth im schönstenBayrisch sprechen, weil das fränkische Städtchen zufällig zum König-reich Bayern gehört, und Wildenbruch macht im Frühling dasFenster zu einer Wochenstube weit auf (Das wandernde Licht"),ohne etwa die mörderischen Absichten zu hegen, mit denen d'Annunzio(I'Ililiooöntö") ein störendes Kind in die rauhe Luft hinaushält.Raabe baut (Zum wilden Mann") seine Katastrophe auf einerjuristisch unmöglichen Schuldforderung auf, und Helene Böhlanläßt (imRecht der Mutter") einen Mann als Hehler ins Ge-fängnis (nachher heißt es sogarZuchthaus ") wandern, bloß weiler ein Zeugnis verweigert hat. Darin geben, wie man sieht, Rea-listen und Idealisten, alte und neue Schule bei uns sich nichts nach;gar über die juristischen Schnitzer unserer Dramatiker ist eine eigeneStudie geschrieben worden. Der nahe liegenden Versuchung, sichnach Dingen zu erkundigen, die man nicht genau kennt, haben mitwenigen Ausnahmen die leuchtendsten sind Goethe und GottfriedKeller unsere deutschen Schriftsteller fast immer siegreich zuwiderstehen gewußt. Nicht einmal um die Geheimnisse fremderSprachen bekümmern sie sich, wo sie sie anwenden. Spielhagenläßt einen italienischen Jesuiten ausrufen,il mio ü^lio!" (statt:raio tiAlio") und Wolzogen gebraucht einem Rittmeister gegenüber,der französischen Sprachunterricht erteilt, regelmäßig die Anredeman oapitairl" (statt:rnon oaxitaine").