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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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Max Kretzer .

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Inzwischen wuchs der Autodidakt zum selbständigen Schrift-steller heran. Was in Kretzer reifte, war freilich wesentlich doch nurdie Gesamtauffassung. Man sagt, nur er habe das Wesentlicheder neuen Romanform erkannt:die sociale Dichtung als künstle-rische Darstellung der in der ökonomischen Lage gefesselten Persön-lichkeit". Mindestens strebte er das an.Die Betrogenen" (1882)undDie Verkommenen" (1883) wollten typische Zeitromane sein,wie fünfzig Jahre früherDie Zerrissenen" undDie Europamüden";nur daß jetzt der Zwang der socialen Verhältnisse so stark betontwurde wie damals der herrschender Geistesstimmungen. Dieser Ver-such, den Einzelnen und sein Schicksal lediglich als Ergebnis derherrschenden Gesamtlage darzustellen, erreichte seine Höhe inMeisterTimpe" (1878). Hier sollte die Vernichtung des Handwerks durchden Großbetrieb geschildert werden. Leider verdarb sich Kretzer dashöchst dankbare Thema durch altmodisch-romanhaftes Anfassen. Erhatte uicht von Ibsen gelernt, daß bei solchem Kampf gerade darin dieTragik liegt, daß jeder in seiner Weise im Recht ist; sondern mitpolitisch-tendenziöser Einseitigkeit machte er den Fabrikherrn zumBösewicht, den kleinen Drechsler zum edlen Märtyrer. Das Buchward so gehässig und unrealistisch wie ein rechter Frauenroman. Daßder Fabrikant dem Handwerker seine Modelle stiehlt, schwächt dieTiefe des Konflikts böse ab. Kretzer bringt aber seinen Handwerkernoch weiter in den Nachteil, indem er ihm einen schlimmen Sohn giebt,dessen Herzenskälte die Thatkraft des Alten lähmt. Das sind allesromanhafte Züge, die den typischen Charakter der Handlung zer-stören. Der Sohn, der seine eigenen Eltern nicht zur Hochzeit mitder Fabrikantentochter einlädt, stammt unmittelbar von jenen Jüng-lingen des juugdeutschen Romans ab, die zwei sociale Schichten soüberdeutlich in Verbindung setzen; wie denn auch die drei Timpes,Großvater, Vater und Sohn, mit naiver Deutlichkeit als Vertreterdreier Generationen gezeichnet und kommentiert werden. Indi-viduelle Gestalten gelingen Kretzer nur in den Nebenfiguren derTrinkstube, typische werden blasse Schemen; so der Fabrikant, undzwar in socialistischer Beleuchtung. Ein Vergleich mit GustavFreytag kann hier nur zum Vorteil vonSoll und Haben "ausfallen.

Mit böser mechanischer Regelmäßigkeit spielt sich die Handlungab wie auf einer wohleingerichteten Maschine. Der Stil schwankthin und her zwischen dem fehlerhaften Deutsch des Autodidakten