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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18801890.

(So erneuerte man das Bündnis und trennte sich als die altenEhrenmänner") und der gespreizten Rede des Durchschnittsromans:Laß den Gedanken daran fallen", sagt der Schutzmann zum Nacht-mächter! In Sprache, Fabel, Charakterzeichnuug überall einRückschritt hinter den Realismus Freytags oder der Luise v. Franxois,in den vollenromanhaften Roman" hinein! Und dennoch begrüßteman dies mißlungene Werk als eine große That, und ein Recensentpreist es als ein modernes Epos, das innerlich und äußerlich, inSprache und Gliederung, in Zeichnung und Schilderung das Ge-präge vollendeter Ausreifung einer künstlerischen Persönlichkeit trage.Gerade nur künstlerisch ist hier gar nichts: bald stört verstandes-müßige Regelmäßigkeit (wie in der Anlage der Fabel), bald un-künstlerische Unklarheit (wie in der Sprache). Der Autor rangnoch mit der Doktrin und der Tendenz, mit dem Vorbild Zolas (das dieDrei Weiber", 1886, ganz beherrscht) und mit dem Be-dürfnis, über den Naturalismus wegzukommen.

In feiner dritten Periode hat Kretzer ein Mittel gefunden,den Naturalismus einzudämmen. Es ist dasselbe, zu dem Huys-mans und Helene Böhlau, Garborg und Strindberg kamen: derSymbolismus. Eine ganze Reihe von intrigenreichen Tendenz-romanen (Der Millionenbaner" 1891,Die Buchhalterin" 1894)war erschienen, als plötzlichDas Gesicht Christi" (1897) überraschte.Gewisse französische Bilder, in denen Christus mit einem Mal anreich besetzter Tafel unter befrackten Herren und tief dekolletiertenDamen erscheint, stehen zum Vergleich näher als die in der Auf-fassung einheitlichen deutschen Gemälde Uhdes; denn auch Kretzer schiebt das Bild Christi mit recht absichtlicher Paradoxie mitten inein Gemälde äußerster Verkommenheit. Aber dieser Kontrast wirkt,und die milde Großartigkeit der mystischen Erscheinung ist in ihrerArt so wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht wie das grenzenloseElend in der Arbeiterwohnung. Die Psychologie der Verhältnissebeherrscht Kretzer jetzt ganz anders als imMeister Timpe", wosich alles so furchtbar einfach und regelrecht machte; auch die Psycho-logie der Gestalten ist vertieft. Früher ging sie bei Kretzer nieüber das hinaus, was man 'sich etwa auf der Straße von einemDritten erzählt:der Meister Timpe ist ja ein guter Kerl, undsehr fleißig, aber er ist viel zu sehr von seinem Jungen entzücktder wird ihn noch mal ruinieren". In ein paar Äußerungen vondieser Art steckt in der That alles, was der Verfasser damals von dem