' Hermann Sudennann, goi
Seelenleben seines Helden wußte. Jetzt erst sind ihm die innerenWidersprüche aufgegangen, in denen die Seele lebt: das Bedürfnisnach Religion in dem glaubenslosen Arbeiter, die tiefvergrabeneSkepsis in dem frommen Pastor. Der Fabrikant zwar ist immer nochganz „Raubtier", und die Scenen, die den Kampf seiner lüsternenBegehrlichkeit mit der Not der Arbeiterin vorführen, haben eineBreite, die weder in der Ökonomie des Romans noch in derfonstigen Art Kretzers begründet ist; sie verdanken sie lediglich derpolemischen Tendenz. Auch sonst tritt zuweilen noch die allegori-sierende Absichtlichkeit störend hervor, wenn es etwa heißt: „Dirneund Heilsverkünderin ergriffen das Gewand des Erlösers undküßten es"; aber das geht vorüber, denn im ganzen wirken jetztdie Gestalten, wie sie wirken sollen: typisch und doch individuell.Nur die Sprache hat Kretzer auch jetzt noch nicht meistern gelernt;immer noch baut ein einfacher Arbeiter steife papierdeutsche Perioden:„Dann hast du in der Einfalt das Richtige getroffen, um dasSpiel möglichst wahr erscheinen zu lassen". Wo spricht man so?Doch eben nur in Romanen!
Man braucht nur Kretzers freundliches blondes Gesicht mitden hellen Augen mit dem energischen, wenn auch etwas absichtlichstilisierten Kopf Hermann Sndermanns (geb. 30. September 1867,in Matzicken in Ostpreußen ) zu vergleichen, um die ganze Ver-schiedenheit der Temperamente zu erkennen. Kretzer ist im Grundeeine altmodisch-idyllische Natur, deren Sympathien ganz bei demkleinbürgerlichen Hausfrieden Timpes find; Sudermann ist in derThat „modern vom Scheitel bis zur Sohle". Hier liegen seineVorzüge wie seine Schwächen.
Sudermann ist nervös, voll unruhiger Hast im Sprechen wieim Schreiben, von jener überstürzenden Energie der Produktion,die ein Dichter wie Wildenbruch, ein Maler wie Max Liebermann ,ein Schauspieler wie Matkowsky als Kennzeichen der Modernitätan der Stirn tragen. Es giebt kaum einen Ort in der Welt, derzu stiller paradiesischer Ruhe mehr einzuladen scheint als das herr-liche Bellaggio. Die elysischen Gürten mit dem betäubenden Geruchder Olea kra^rans scheinen eine einzige sybaritische Ruhebank zubilden, zu deren Füßen der Comer See leise mit musikalischemRhythmus unser Ohr umschmeichelt. Man ist gefesselt wie in denZaubergärten Armidens. — Hier, wo die Eile eigentlich eineklimatische Unmöglichkeit, sahen wir einen großen Mann in weißem