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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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861
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Die Ehre".Sodoms Ende". 861

Sudermann hätte ein Drama schaffen können, naturalistischer,materialistischer als Holz und Schlaf und Hanptmann und ausder naturalistischen Psychologie heraus Epoche machend. SeinTalent wies ihn auf ein Drama, von dem im Ernst die Wortedes Skeptikers inSodoms Ende" gegolten hätten:Es giebt keineLiebe es giebt kein Schicksal es giebt keine Pflichten esgiebt bloß Nerven". Das Nervensystem als modernes Fatumdas ist ein Gedanke, den Strindberg und seine Nachahmer, HermannBahr und Ola Hansson , in Erzählungen durchzuführen versuchten;aber das Theater ist der richtige Boden dafür. Wir glauben nichtau jenen Satz; aber wer an ihn glaubt, sollte das dramatischeExperiment versuchen. Wie in nervösen Naturen, die keiner Konse-quenz mehr fähig siud, der Begriff eiues folgerechten Schicksals sichauflöst in die Vorstellung eines Chaos von launischen Eindrücken,Suggestionen, Nervenzufällen; wie ihre Liebe einer plötzlichen sinn-lichen Regnng, ihr Pflichtbewußtsein irgend einer Verführung nichtzu widerstehen weiß das hatte gerade Sudermanns impulsivesTemperament packend darzustellen gewußt. Er begab sich mitSodoms Ende" (1891) auf diesen Weg. Der wurmstichigeTitane, der rasch verbrauchte Künstler wird zum Spielball allerSuggestionen: das künstlerische Pflichtbewußtsein und die Trägheit,die verdorbene Dame der Gesellschaft und das anschuldige Mädchen,der philiströse Musterprofessor Riemann und die Bewunderer seinerGenialität" zupfeu abwechselnd an seinen Nerven und richtendiesen unglückseligen Typus aus dem Sodom der raffiniertenWünsche und Genüsse zu Grunde. Ein Thema, das damals nurzu zeitgemäß war, als wieder einmal, wie fünfzig Jahre früher, dieunzureichenden Giganten an allen Ecken und Enden auftauchten,sogenannte Genies ohne Saft und Mark, lauter Nerven, keineKnochen, und als ein thörichter Geniekultus diesemüden Männer"vollends in ihrer selbstvergötternden Unfähigkeit ersticken ließ. Deräscsäsnt" ward Mode: je schlapper, desto moderner. Der alteRanke hatte sich znr Devise seines Adelswappens gewählt: ,1g,borixss voluxtas"; jetzt hieß es bei den Nachbetern von Huysmans und Oskar Wilde :voluxtas ixsg, lavor«. Erschlafft lagen über-all angebliche Herkulesse auf den Lorbeeren ihrer ersten Arbeitherum, und anbetende Weiber streuten ihnen Weihrauch, währendentzückte Winkelpfaffen der Welt die künftigen elf weiteren Wunder-werke im voraus anpriesen.