„Johannes". 867
Aber er könnte es auch sonst nicht: er ist nicht der Mann dazu.Von dem Reich der Zukunft versteht er nur die negative Seite: dieharte Abwehr jeder Unsittlichkeit; nicht die positive: die Verkündigungder Liebe. Deshalb verwirrt ihn die Botschaft von Christo, deshalblahmt den Eiferer die Nachricht, Jesus predige die Liebe. So gehter an seiner Einseitigkeit zu Grunde: nicht stark genug, den abzu-weisen, der die Liebe verkündet, ist er doch auch nicht groß genug,sich innerlich ganz zu ihm zu bekehren. Erst sterbend wird er —wie Teja und „Fritzchen" — reif für die höhere Erkenntnis.
Aus dieser Überfülluug stammt hier, wie im „Teja", die böseStillosigkeit. Sätze, die wirklich aus der Bibel entnommen sind,stoßen sich mit Paraphrasen Nietzsches, die sogar den Klang seinerRede bewahren (so in Johannes' verachtungsvollen Worten gegendie Kleinlichkeit der Liebe). Daher die fast komische Figur, dieder Asket vor Salome spielt.
Und dennoch — eine große Ahnung weht durch das miß-lungene Drama. „Heimat" Popularisierte in grober Weise dasEvangelium des Individualismus; „Johannes" verkündet inzitternder Unsicherheit die Hoffnung der neuen Zeit — Ibsens,Nietzsches, so vieler unter den Besten Messiasglauben. Es heißt,im Himmel sei mehr Freude über einen reuigen Sünder als überhundert, die nie gefehlt haben; die Litteraturgeschichte hat auchmanche Verfehlung höher zu stellen als hundert korrekte Muster-werke.
Die Übersättigung an realistischen Effekten trieb dann schließ-lich auch Sudermann in die Märchenpoesie seiner „Drei Reiher-sedern" (1898) — einer unklaren symbolischen Tragödie vom blindenTitanen, mit dessen Wollen und Können das Schicksal sein Spieltreibt. Wie der Mensch nach Fröhlichs tiefsinnigem Wort oftnur einer Feder, die er in die Luft blies, bis in die Gruftnachjagt, so hetzt den Prinzen Witte das Feengeschenk der dreiNeiherfedern aü Ruhe und Frieden vorbei in den Tod. Servaesrühmt „die dekorative Ausgestaltung des Stoffes: den Aufbau derScenerie, den Gegensatz der Bilder, den Wechsel in den Auftritten,die farbige Ablösung der Gestalten, die historisch-mythologischeAtmosphäre". Noch dürfen wir hoffen, daß diese Ablösuug äußer-lichster Effekte durch äußerliche, aber immerhin symbolische Wirkungenden Weg zu innerlichen, tiefen Wirkungen andeutet und verkündetund daß es diesem in sich noch nicht gefestigten, aber von niederen
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