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1890—1899.
angeblich „poesielose Nüchternheit" nur Hohn und Spott, ohne sichdoch im positiven Glauben zn der Innigkeit jener Überzeugungenerheben zu können. — Gerechtigkeit! das Wort stand lange bei unsin höchsten Ehren. Heut soll überall, wie im 17. Jahrhundert, dieStaatsräson entscheiden und der Grundsatz „salus xudliog, suxremaIsx" wird zur Rechtfertigung jeder Maßregel ausreichend befunden,in der man das kuncZamsntuw i-sAnorum vermißt. — Humanität!man darf das Wort nicht mehr ohne den verächtlichen Zusatz„schwächlich" aussprechen. Man begeistert sich für Prügelstrafe.In allen Ständen hat die Verrohung zugenommen; man braucht nurau den Ton zu denken, der in den Parlamenten herrschend geworden ist.
Auch das sind Folgen einer Konzentration, die zuweilen ge-fährlich nahe an Beschränktheit grenzt. In Wien auf der Philo-logenversammlung (1895) hat ein großer Gelehrter, der nichtsweniger als ein Pedant ist und bei aller Gelehrsamkeit sich dieFühlung mit dem modernen Leben gewahrt hat, Hermann Diels ,weithin vernehmliche Worte gesprochen. „Es geht nicht nur in unseremVaterlande, sondern in der ganzen civilisierten Welt ein böser Geistmit eisernen Händen und hölzernem Kopfe um: das Banausentum!Es ist ein Geist, der uicht nur Ungebildete, sondern auch Über-gebildete ergreift und alles Hervorragende zu vernichten sucht." AlsDiels so sprach, hatte wohl Nordau schon seine „Entartung" ge-schrieben; aber die Reichstagsdebatte über das Straßburger Goethe-denkmal hätte mau damals wohl noch nicht für möglich gehalten.
Aber nicht überall wirkt die Konzentration, das Verengen desGesichtskreises und der Interessen, schädlich. Für die Kunst und fürdas litterarische Leben hat die allgemeine Tendenz auf zunehmendeArbeitsteilung, auf näher liegende Ziele greifbare Vorteile gehabt.
Ein äußeres Zeichen dafür ist die zunehmende Jndividualisie-rnng der Verlagsfirmcn. Heute Pflegen etwa W. Hertz (HermanGrimm, Paul Heyse ) und Velhagen und Klasing die Litteraturälterer Schule, Cottas Nachfolger (Sudermann), Grunow inLeipzig (Eh. Niese, A. Niemann) und Gebrüder Paetel in Berlin (Marie v. Ebner, Hans Hoffmann, Anselm Heine) Schriften, die eineHaltung älteren Stils mit modernen Tendenzen vereinigen, Schabelitzin Zürich Bücher von radikalster Gesinnung; während eine ganzeAnzahl jüngerer Firmen, wie S. Fischer (Gerhart Hauptmann , Hart-leben, Georg Hirschfeld), Schuster und Löffler (Liliencron , impressio-nistische Lyriker), G. Bondi (Ruederer, Halbe, Stefan George ),