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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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18901899.

besitztdie innerliche Geschmeidigkeit, mit der man in das Seelen-gehäuse der anderen hineinschlüpft und sich darin umthut, um sievöllig zu begreifen". Daher ist ihr Buch auch ungewöhnlich reichan erstaunlich feinen psychologischen Beobachtungen. Aber aller-dings liegt ein Realismus im Sinne des Schlagwortes nicht inder Absicht der Dichterin. Die täglichen Beschäftigungen werdenfast so vornehm ignoriert wie bei den Romantikern; kaum erfahrenwir, welche Geschäfte Ludolfs Vater treibt. Mehr stört die Ver-nachlässigung des physischen Menschen: die Dichterin schlüpft in dasSeclengehäuse und versäumt, uns auch die Hülle anschaulich zumachen; Gesten sehen wir allenfalls, aber zu wenig und zu Allge-meines über Statur, Farbe, Ton der Stimme. Auch leugne ich nicht,daß mir das Gemälde der Hamburger Cholera allzu sehr, bisweilenins Unleidliche stilisiert scheint; hier wäre als Gegengewicht gegen diefeinen Virtuosenexistenzen der Ursleuen eine mächtige Darstellung derfurchtbaren Naturgewalt am Platze gewesen, und die mythologischeGestalt der Pest erscheint da fast als Spielerei. Selbst die an sichwundervoll durchgeführte, unvergeßbare Schilderung von Flore Lelallenund der Bande vom heiligen Leben kann die kräftigen Töne nicht ent-behrlich machen. Auch der Leser hat einRecht auf Unglück", aufdie Vorführung des Häßlichen selbst, wo die gigantische Kraft derLebensmächte einmal angerufen ist. So fein und sicher ist dieKomposition angelegt! Georginens Schicksal, ganz realistisch vor-geführt, bereitet auf die Zerstörung der Schönheit durch die roheGewalt, des unersetzbar Einzigen durch die alltäglichen Kräfte sym-bolisch vor; auf der Höhe des Romans verstärkt die Cholera diesenEindruck, zeigt uns die Mächte der Zerstörung schon wirksam; unddoch überraschend, wie das Wirkliche, erfüllt sich dann im letztenDrittel mit Luciles Tod und Gaspards neuem Auftreten dasSchicksal. Aber diese groß durchdachte Komposition forderte auchfür jenen Höhepunkt eine stärkere Instrumentation statt der etwasflauen Töne.

Der Stil des Ganzen ist freilich von der Art, daß er dieDichterin wohl einmal zu einem Mißgriff verleiten konnte: so vollerPoesie wie voller Wahrheit, so anschaulich wie ideell. WunderbareGleichnisse erinnern bald an Bettinen, bald an Gottfried Keller :

Im Fortgehen fiel mir das Apfelbäumchen ins Auge; die späten Un-glücksblüten waren aber inzwischen abgewelkt, und es sah wüst aus wieein altes, wirres Weib, das sich mit zerfetztem Putz behängt hat, weil es