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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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1890I8S9.

Leiblichen und Geistigen nach schönen Maßen sucht: daß sie von derSchwärmerei für seichte allgemeine Bildung und Beglückung sich ebenso ge-löst hat als von verjährter, landskncchtischer Barbarei: daß sie die steifeGradheit, sowie das Geduckte, Lastcntrageude der Umlebenden als häßlichvermeldet und freien Hauptes schön durch das Leben schreiten will: daß sieschließlich auch ihr Volkstum groß und nicht im beschränkten Sinne einesStammes auffaßt: darin finde man den Umschwung des deutscheu WescnSbei der Jahrhundertwende.Nicht jede Hoffnung wird sich erfüllen, nicht jede Abwehrfrüherer Art sich als berechtigt erweisen. Aber wir glauben an dieKraft des wiedererwachten Idealismus; wir glauben an die Machtder deutschen Volksseele; wir glauben an den Ernst der Künstlervon heute. Und deshalb glaubeil wir mit Stefan George an eineglänzende Wiedergeburt in der Kunst und nicht nur in derKunst. Ein neues Leben, eine neue Kultur muß dem größten derlebenden Völker erblühen, eine Zeit, die Kraft der Herrschaft eintmit Zartheit des Empfindens und Sicherheit des Erkennens mitSchönheit des Gestaltens. Die Zeit muß kommeu, wenn wir unsnur jene beiden Mächte zu wahren wissen, die Goethe den Deutschen als die deutschesten ans Herz legte: Ernst nnd Liebe. Freilichhaben sie auch heut der Feinde fast zu viel. Aber wenn der Ernstund die Liebe siegen, dann beherrscht deutscher Geist die Welt undauf lange die Zeiten. Und darauf vertrauen wir, wie GottfriedKeller darauf vertraute, als er vor vierzig Jahren beimGroßenSchillerfest" das künftige Geschick unserer Kunst. und unseresVolkes am Festfeuer erblickte:

Seine unsichtbaren HüterLehnten am StandartenschaftIn den goldnen Wasscnröcken:Das Gewissen und die Kraft!