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Geschichte der organischen Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert : Medizin und deren Hilfswissenschaften, Zoologie und Botanik / von Franz Carl Müller
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5SO X. Geistes- und Nervenkrankheiten nnd gerichtliche Medizin.

Während man früher die Hysterie als eine Krankheitssormansah, die mit dem sexuellen Leben in Znsammenhang steht, woherauch der famose Rat stammt, Hysterische sollten aus therapeutischenGründen heiraten, kam man durch die Untersuchungen Charcotsund desseu Schule immer mehr zu der Überzeugung, daß es sichdabei weniger um eine Neurose, als um eine psychische Störunghandelt, welche das Interesse der Psychiater in vollem Maße ver-dient. Einer der hervorragendsten deutscheu Autoreit auf diesemGebiete ist Möbius, welcher sich au die französische Schale an-schließt, dabei aber auch selbst für die Erkenntnis der Krankheitwesentliche Verdienste hat. Grunderscheinungen sind das labilepsychische Gleichgewicht, die rasche Reaktion der Psyche auf äußereEindrücke und der unvermittelte Wechsel der Gefühle und Er-regungen. Es sind hier dieselben Autoren, wie wir sie schon beider Epilepsie keimen gelernt haben, die den Fortschritten derWissenschaft ihre Kraft geliehen haben. Arndt hält die Hysteriefür den Ausdruck einer bloßen Molekularerkrankung des Nerven-systems, d. h. als den Ausdruck von Auomalieu in den kleinstenBestandteilen, die noch zu keinen, mit den gewöhitlichen HilsSmittelnsichtbaren, Veränderungen geführt haben, also sür eine suuktionelleKrankheit. Deshalb kommt er auch zu dem Schlüsse, daß dieHysterie zwar ein schweres Leiden, aber trotzdem keine eigentlicheKrankheit, nur eiu Symptom einer solchen ist. Wenn er weiter-gehend die Ursache in einer Ernähruugsstvrung, in einer Hypvplasiesucht, so begab er sich damit auf ein Gebiet, auf welches ihm nichtviele gefolgt sind. Auch Pitres betonte den funktionellen Charakterder Hysterie, deren Pathologisches Substrat er ebenso wie Löwen-feld als uns zur Zeit noch unbekannt bezeichnet. Die meistenrechnen die Hysterie zu den Neuroseu, aber schon 1872 hatDe Berdt Hovell den Standpunkt vertreten, daß es sich dabeinm eilte wirkliche Psychose dreht. Man hat anfänglich seine Ansichtnicht anerkannt, ist aber in allerjüugster Zeit (Kraepelin) wiederdarauf zurückgekommen. Aber schon vor ihm hat Liebermeisterdie Hysterie als eine Störung der niederen psychischeii Funktionenaufgefaßt.

Da krankhafte Ideen, die entweder im Individuum selbst eut-