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Geschichte der organischen Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert : Medizin und deren Hilfswissenschaften, Zoologie und Botanik / von Franz Carl Müller
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Hysterie.

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haben; solche Fälle, die von Parott (1859) und Tittel (1875)beobachtet wurden, erwecken in der Laienwelt leicht den Verdacht,daß es sich uin eine Wiederholung der Wunden und BlutungenChristi handelt, aber die genauere Beobachtung legt die Ver-mutung nahe, daß die Kranken sich selbst die betreffenden Wnndenzugefügt haben. Man ist sogar so weit gegangen, zn glauben,daß durch bloße Suggestion Brandblasen auf der Haut ent-stehen können. Ein solcher Versuch wurde vor einigen Jahren inMünchen iu Gegenwart einer Reihe von Universitätslehrern an-gestellt und mit uuzweifelhafter Sicherheit eruiert, daß die Kranketrotz aller Vorsichtsmaßregeln Gelegenheit gefunden hatte, sich miteiner Haaruadel zwar keine Brandblase, aber eine Verletzung zu-zufügen, deren Entstehung man sich sonst nicht hätte erklären können.Die Unterdrückung der Harnsekretion ist zwar ein nicht häufiges,aber gut beobachtetes Symptom: Charcot sah eine Kranke, die14 Tage lang täglich nur etwa 5 Gramm Uriu von sich gab.Unter deu Aufälleu bieten Interesse die Katalepsie, bei welcher dieGlieder sich in wächserner Starre befinden, die reinen Lähmungenund die Zustände von Scheintod, wie M. Rosenthal einen be-obachtet hatte, bei dem von Puls und Atmuug uichts mehr zumerken war. Verwandt damit ist der hysterische Somnambu-lismus und das Schlafwandeln, iu welcher Hinsicht die berühmteLouise Lateau deu bisherigen Rekord gebrochen hat.

Es ist historisch interessant, daß es trotz der Zunahme unsererpsychologischen nnd psychiatrischen Kenntnisse immer noch Ärztegiebt, welche sich durch die Kranken täuschen lassen und an eineübernatürliche Einwirkung glauben. Auf dem gleichen Standpunktestehen die Klopfgeister und die hysterischen Personen, welche ihreUmgebung durch das Werfen mit Gegenständen solange erschrecken,bis endlich ein kühl und gnt beobachtender Zuschauer den wahrenZnsammenhang aufdeckt. Eiu solches Mädchen trieb vor einigenJahren in der Oberpfalz sein Unwesen und fand einen Arzt, derin einer hochwifseuschaftlicheu Arbeit vom Ausgleich zwischen nega-tiver und positiver Elektricität sprach bis die Hysterien denSchwindel eiugestand. Ein ähnlicher, zu Anfang des Jahres 1901in Müncheu beobachteter Fall, bei welchem die gläubige Menge