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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
Entstehung
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Einleitung.

Sollte aber eine solche idealistische Betrachtungsweise der derberenStruktur unseres heutigen Geisteslebens zu fein und zu fernliegendsein, nun so bezeugt es die Geschichte selbst, daß die Jahrhundertedoch so etwas wie eine Eigenart haben, sich voneinander unter-scheiden und mit überraschend charakteristischen Zügen das eine sichvom anderen sondert und abhebt: ich nenne das zwölfte, das sech-zehnte, das achtzehnte, und mit dem unsrigeu scheint es mir auchnicht anders zn sein. Und so haben denn auch zu allen Zeitendie Menschen die Wende eines Jahrhunderts ganz besonders lebhastwie ein wirkliches Ereignis empfunden und durchlebt; wennuns das Zittcru und Schauern der Welt vor dem Jahre 1000allzu abergläubisch vorkommt, so dürfen wir doch Schiller, dengeisteshellen, gelten lassen, der schon 1789 im schonen Optimismusseines Zeitaltersan des Jahrhunderts Neige" den Menschen be-grüßt hat alsden reifsten Sohn der Zeit, frei durch Vernunft,stark durch Gesetze, durch Sanftmut groß und reich durch Schätze,Herr der Natur".

Und so stehen auch unsere Gefühle darüber glaube ich michnicht zu täuschen unter dem Eindruck eines wirklichen Ein-schnitts, eines zn Ende gehenden Zeitabschnitts, einer zum Abschlußkommenden Weltperiode, wobei es im Augenblick nicht darauf an-kommt, ob wir dieses Ende mit Schmerz und Wehmnt beklagen wieeinen geliebten Toten, von dem wir Abschied nehmen müssen, oderhoffnungsfreudig uud froh dem nenen Morgen entgegenjanchzen.Ob Abendrot oder Morgengrauen, ein Altes ist im Ablaufen, einNenes zieht herauf, und wir spüren es, wie Mephisto spukt demeiuen schon durch alle Glieder die herrliche Walpurgisnacht, wieFaust verkündigen einem zweiten die dnmpsen Glvcken schon desOsterfestes erste Feierstunde, wie Gretchen tönt einem dritten desWeltgerichts Posaune zu: äiss iras, äies illa solvet, Zasoluln intavilla! Aber eben weil wir Übergangsmenschcn sind und weil wirdas spüren, soll es nns auch an diesem Sylvesterabend des Jahr-hunderts in Selbstbetrachtuug und Einkehr zum Bewußtsein kommen,was dieser Übergang für uns bedeutet, und wie der Einzelne amEnde eines Jahres, so wollen wir an des Jahrhunderts Neige dieErgebnisse desselben zusammenschauen und zusammenrechnen und

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