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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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1348 bis 1871: Die Reaktion der fünfziger Jahre.

stellenden Gedanken: dieses bist du! beruht alle Sittlichkeit, negativdie Gerechtigkeit uud positiv die Menschenliebe; und auch die Tieresind von diesem tat t^vam asi nicht ausgeschlossen.

Doch diese gewöhnliche Moral des Mitleides ist mir exotcrisch,hat nur propädeutischen Wert. Wenn sich vor den Augen eiuesMenschen der Schleier der Maja lüftet, das privoipium incZivi-cuiatiorns so sehr schwindet, daß er den egoistischen Unterschiedzwischen seiner Person und der fremden nicht mehr macht, sondernan den Leiden der anderen soviel Anteil nimmt wie an den eigenen,so wendet sich der Wille vom Leben ab, gelangt zum Zustand dersreiwilligcn Entsagung, der Resignation, der Gelassenheit und gänz-licheu Willenlosigkeit, die Erkenntnis wird statt wie für den ego-istischen Willen zum Motiv, vielmehr zum Quietiv, der Wille wirdverneint. Die Forin dieser Willensverneinung ist die Askese, alsVorbild dafür dienen die mittelalterlichen Mönche und noch mehrdie indischen Büßer. Freiwillige und vollkommene Keuschheit, frei-willige und absichtliche Armut, Fasteu, Kasteiung, Selbstpeiuigung,langsamer Hungertod das sind hier die sittlichen Aufgaben;und das Ziel Nirwana, der Rückgang in das Nichts, das dochkein reines Nichts ist. Dem gewöhnlichen Mcuscheu freilich gilt:kein Wille, keine Vorstellung, keine Welt der Objekte; dem Heiligenaber ist die Welt nichts und nichtiger Schein und darnm jenesNichts alles uud alle Wirklichkeit und Wahrheit. Sollte man etwasPositives darüber aufstellen wollen, so müßte auf den Znstandverwiesen werden, den alle die, welche zur vollkommenen Verneinungdes Willens gelangt sind, Mystiker und Heilige, erfahren und er-lebt haben und den man mit Namen wie Ekstase, Entrücknng, Er-lenchtnng, Vereinigung mit Gott bezeichnet hat; denn hier ist dieForm von Subjekt uud Objekt verschwunden. Ju diesem Zwie-licht zwischen religiösem MystiziSmus und illusionistischem Nihilis-mus endet das System.

Vierzig Jahre hatte das Jnkubationsstadium der Schopeu-hauerschen Philosophie gedauert, und auch jetzt, als ihre Zeit kam,kam sie uicht für alles und für das Ganze zugleich. In einemPunkte befand sie sich sogar in einem dauernden Gegensatz zu denAnschauungen und Tendenzen des Jahrhuuderts, und es muß