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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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1843 biS 1871: Die Begründung des deutschen Reiches.

Religiöse ein Innerliches und Ideales, das Politische ein Äußer-liches, Reales nnd Realistisches, und deshalb hat uns Bismarck zuRealisten gemacht, weil die Zeit dazu erfüllt und angethan, war.Und ein zweites hängt damit zusammen: Luther bewegt sich aufeinem dem Volk am Herzen liegenden Gebiet, bei Bismarck scheintes umgekehrt, uud darum begiuut er mit Gegensatz nnd Konflikt,mit Zwang und Vergewaltigung. Dem Volke der Dichter undDeuker war die Politik von Hans aus fremd und wenig sympathischUnd so scheint es, als habe er das Fühlen und Empfinden seinesVolkes erst umgestalten und in seine Bahnen zwingen müssen.Aber so scheint es nur. Wir haben gesehen, wie die politischeFrage seit 1815 uud vollends seit 1848 im Mittelpunkt undVordergrund des Interesses gestanden hat und auf ihre definitiveLösung alles hinwies uud hindrängte; seit dem juugen Deutsch-land galt der Idealismus als überlebt, seit 1848 als unpraktischund unbrauchbar. So bestätigt also Bismarck nur die Regel, daßgroße Individuen nicht groß sein und werden können, wenn sie ihreZeit nicht verstehen, wenn sie nicht aussprechen, was diese im Tiefstenbewegt, ausführen, was sie ersehnt und erstrebt. Nicht weil ihmso Großes gelungen, sondern mehr noch weil er so groß gewesenist und so typisch den Genius uuseres Volkes in sich verkörperthat, ist er wie Luther zum Markstein geworden, an dem sich dieGeister geschieden haben und lauge noch scheiden werdeu. Deuuauch das gehört zur welthistorischen Größe, daß sie drückt undreizt: das Verhältnis Melanchthons zu Luther ist dafür für alleZeitcu charakteristisch, das Wort:ich bin nicht gekommen Friedenzu bringen, sondern Krieg" gilt für alle Großen. Sie drückt abernicht nnr, sie erdrückt auch, darum pflegt auf die Zeit eines sogroßen und starken Menschen eine Generation von Epigonen zufolgen, und der Charakterstärke thnn sie ohnedies nicht gut. linddarin hatte Bismarck doch im Gegensatz zu Luther etwas von demRealisten Napoleon , daß er zwar seinfühligcr als dieser die Im-ponderabilien, das was in der Volksseele unterirdisch schwingt, zuschätzen und zu benützen wußte, aber das Ideale zu Pflegen war nichtseine Sache, wo es und seine Trüger ihm unbequem wurden, da schrittauch er rücksichtslos darüber hinweg und schob sie verächtlich beiseite.