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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871: Der Kulturkampf.

des Idealismus" von dein Prager Professor Willmann, denPaulsen ganz richtig alsdas jüngste Ketzergericht über die modernePhilosophie" bezeichnet hat. Gemessen an demRealismus" desheiligen Thomas erscheint hier die ganze deutsche Philosophie, ansdie wir stolz sind, als verwerflicher-Nominalismus", ihr Idealismuserhält günstigstenfalls das Prädikat desunechten", Spinoza undKant müssen sich von diesem Pamphletisten unaufhörlichSophisten"schelten und der erstere dazu noch alsFälscher", der letztere alsPrä-ditaut des Umsturzes von Glaube, Sitte uud Wissenschaft" denun-zieren lassen. Dem gegenüber werden allerlei dunkle Ehrenmännerals Wegweiser zumechteu" Idealismus und Erneuerer desselben ausden Schild gehoben und schließlich die päpstliche Thomas-Eneyklikagleichsehr alseine That der lehrenden Weisheit, wie als reifeFrucht der spontanen Negenerationsbestrebungen der christlichenWissenschast" gepriesen. Greller ist der Riß zwischen katholischerund protestantischer Wissenschaft kaum je zu Tage getreten. Aberanch kaum je tragischer. Denn wie unglückselig muß sich eiu Ge-lehrter sühleu, der alles, was sein Volk Großes und Ernsthastesanfzuweisen hat an Denkarbeit und genialer Ideen konzeption, süreinen großen Jrrgang erklärt, über den man nur schelten und Weherufen kann, und 'der voll verbitterten Mißtrauens uud iu demschlechten Gewissen der eigenen Gebundenheit und Unfreiheit überallda bösen Willen sieht, wo redliches und mutiges Forschen seineneigenen Weg sich sucht und im ehrlichen Ringen um die Wahrheitauch kirchlich Überliefertem und offiziell Geglaubtem gegenüber nachbestem Wissen und Gewissen Nein zu sagen sich herausnimmt.

Angesichts dieses Geistes der Ungerechtigkeit nnd dieser Neigungalles auders Gedachte zu karikieren und zu verketzern, mnsz dannfreilich, trotz alles Eifers, den gerade unter Leos XIII . Einflußdie katholische Theologie und Philosophie entwickelt, um den Vor-sprung des Protestautismus hereinzuholen, der Liebe Müh umsonstbleiben. Die Philosophie braucht Freiheit, unter Vormuudschastgehalten und mit gebundener Marschroute, mit Scheuklappen rechtsund links kaun sie nicht gedeihen und vorwärtsschreiten; nnd auchdie Theologie kann ihres Amtes Glauben und Wissen zn vermittelnnicht walten, wenn ihr das Wifsenwollen von vorue herein unter-