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Nach 1871: Der Kulturkamps.
Die Ritschlsche Schule.
Indem aber solche Männer sich immer entschiedener zu über-legenster wissenschaftlicher Geistessreiheit emporarbeiteten und soallmählich auf den äußersten linken Flügel der Theologie zu stehenkamen, schob sich zwischen sie und ihre orthodoxen Gegner anfsneue eine Vermittelude Richtung mitten inne, durch die der liberaleProtestantismus zunächst uoch einmal an Bodeu verlor und dieeine Zeitlang auch iu der wissenschaftlichen Theologie die Vorherrschaftan sich reißen zn wollen schien — es war das die Schule des GöttiugerTheologen Ritschl. Dieser war von Baur ausgegangeu, hatte aberdauu in einer menschlich wenig erbaulichen Form mit ihm gebrochenund im Gegensatz zu ihm gewissermaßen als „Palinodie" seine Hypo-these über „die Entstehung der altkatholischen Kirche" nach der posi-tiven Seite hin umgestaltet; nnd ebenso sagteer sich später ausdrücklichauch von Schleiermacher los durch eine recht böse Schrift überdessen Reden über die Religion. Von jenem schwd ihu die durchausautihegelfche und überhaupt aller Spekulation und Metaphysik ab-geneigte Haltung seiner Theologie, von diesem seine Ablehnung allesMystischen iu der Religion. Es würde hier zu weit führen, Nitschlsdogmatisches System darzustellen; es ist dies auch schwierig beieiuem Mann, der in den verschiedenen Auflagen seines Hauptwerksüber „die christliche Lehre von der Rechtfertigung nnd Versöhnung"bald uach einem theoretischen Beweis für das Dasein Gottes sncht,wodurch Theologie als Wissenschaft erst möglich werden soll, balddie Möglichkeit nicht nur der herkömmlichen Beweise mit Kant be-streitet, sondern sie überhaupt und schlechtweg leugnet. Immer-hin zeigt sich uns hier der erste der Punkte, worin er geschickt sichden Strömungen seiner Zeit anzupassen wußte. 1862 war sür diePhilosophie die Losung ausgegeben worden: zurück zu Kaut! Ihrschließt sich auch Ritschl au, indem er erkenntnisthevretische Unter-suchungen mit seiner Theologie verbindet nnd scheinbar ganz tantischalle natürliche Theologie und Religion ablehnt. Damit ist abernur dem Glauben im Unterschied vom theoretischen Wissen Platzgeschaffen: dieses hat es mit Seinsurteileu, der Glaube dagegenmit Werturteilen zu thun. Indem aus dem Wert, deu die Glaubens-