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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Die Ritschlsche Schule.

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sätze für den Menschen haben, auf deren Richtigkeit nnd auf dieExistenz des ihneu zu Grunde liegenden geschlossen wird, nähertsich die Ritschlsche Theologie der Lehre Fenerbachs, daß der Wunschder Vater des Glaubeus sei. Gerade in dieser Wendnng besteht aberdas Verhängnisvolle dieser Theologie, die so kritisch anhebt undschließlich einfach als wertvoll und^ damit als wahr statuiert, wassie wünscht. Das ist zwar sehr bequem, aber es ist weder kantischnoch ganz ausrichtig. Zugleich liegt iu der Umwandlung des Glaubens-inhalts in Werturteile auch eine Beziehung zu den modernenStrömungen in der Psychologie: durch die Zurückdränguug desJutellcktualistischen, die starke Betonung des persönlich Macht-vollen in Gott und die Hervorhebung der Selbstthätigkeit dermenschlichen Seele nähert sich diese Theologie der voluntaristischenAnschauung, die seit Schopenhauer im Vordergrund steht. IndemRitschl endlich die christliche Weltanschauuug, aus deren ideologischenCharakter er besonderes Gewicht legt, nicht aus dem StandpunktChristi heraus, sondern aus dem seiner Gemeinde entwickelt, entgehter einer Reihe historischer Schwierigkeiten und gewinnt durch dieseVoranstellnng der christlichen Gemeinde, die auch das eigentlicheObjekt der Rechtfertigung ist, ein sociales Prinzip, das wiederumeinem Zuge der Zeit sympathisch entgegenkam.

So war diese Theologie wirklichzeitgemäß", und raschbildete sich um den Meister her eineSchule" von jungen Theo-logen, für welche Ritschl, einer jener akademischen Größen mitweitreichendem Einfluß, auch auf den Lehrstühlen der protestan-tischen Theologie überall Platz zu schaffen wußte. Gerade dieTalentvollsten schloßeu sich au ihn an, wir dürfen ja nur an dieLeistnngen des einen dieser Ritschlianer, an Adols Harnacks Dogmen-gescyichte denken. Allein eine kirchliche Bewegung im großen Stilwar es darum doch nicht: es war eine theologischeSchule", ihreMitglieder waren Offiziere, aber ein Heer, die Gemeinde, stand auchhinter ihnen nicht, lind schon im Begriff der Schule liegt, daß nach dem Tode des Meisters die Schüler, gerade weil eskeine unbedeutenden Kopse waren, selbständig weiter nnd damitrasch auch auseiuauder gingen: kurzlebiger als diese Ritschlsche Schule

ist kaum je eine gewesen. Es hing aber auch mit dem Wesen der

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