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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Liberalismus und Socialismus.

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Grundbesitzer, des Gewerbetreibenden an die Zunft, der Wissenschaftan das Dogma, schließlich sogar Gebundenheit des Dichters an dieTabnlatnr. Dieser durchgängigen Unfreiheit gegenüber hat seitdem sünszehnten Jahrhundert für die Kulturvölker Europas dergroße Befreinngsprozeß begonnen. Die erste Sturzwelle dieserfreiheitliche» Bewegung, der erste große Akt in diesem welthistorischenDrama war die Renaissance und Reformation, der zweite diePhilosophie der Anfklärnng, der dritte die französische Revolution.An der ersten uud zweiten Aktion hatte Deutschland einen hervor-ragenden Anteil, was in der dritten Frankreich in raschem Ansturm,aber unter beständigen Rückläufen und Zncknngen sich erobert hatte,mußte der deutsche Liberalisinus im Laus des neunzehnten Jahr-hunderts in langsamein Ringen für den dritten Staud zunächsterkämpfen. Mit dein Gegensatz, den es auf alle» diesen Zinsenzn überwinden gab, hängt es zusammen, daß dieser fortschreitendeBefreiuugsprozesz der Neuzeit eine individualistische Richtung nahm.Der Liberalismus ist vermöge seiuer geschichtlichen Voraussetzungenuud Entstchungsbedingungen von Haus aus Individualismus, daslag nicht in seinem Belieben und war nicht seine Schuld, sonderndas ist eine historische Notwendigkeit, ist sein gutes Recht und mehrnoch, ist geradezu sein Ruhmestitel. Weil er auf allen Gebieteueine unberechtigte Vergewaltigung des Individuums uud seinespersönlich freien Seins und Vehabens vorfand, so galt sein Kampfder Bcsreiling dieser Individuen. Das zeigte sich zuerst in derRenaissanee, jener ästhetisch aristokratischen Revolution der höhereueuropäische» Gesellschaft, wo unter Zurückgreifen auf die Antike dasRecht der schöne» Persönlichkeit und des nomo sinAolare in allseiner natürlichen, Welt- und sinnenfrendigen Unmittelbarkeit fürKuust und Leben, für Geselligkeit, Bildung und Erziehung zurück-gefordert wird. Und es zeigte sich ebenso in der demokratischen Be-wegung der Reformation, wo das Gewissen und der Glaubeu deseiuzelneu Menscheu unabhängig gestellt wurde vom Machtspruch undBann der Kircheein Christenmensch ist ein sreier Herr überalle Dinge und niemanden Unterthan", sagt Luther , uud wo nebenden Pflichten nnd Rechten dieses Christenmenschen zugleich auch dielauge verschüttete Quelle aller religiösen und sittlichen Kraft im

Zieglcr, die geistigen u, socialen Slromungeu des 19. Jahrh. 32