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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Socialdemokratie und Kirche.

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daß die Religion ihnen nnr noch als eine Art Zügel und Zaumvon den Gebildeten auferlegt und aufräsouniert werden solle,während diese für sich selbst nicht mehr an ihre Dogmen glauben;und wenn das heute nicht mehr ganz richtig ist, in den siebzigeruud achtziger Jahren traf es vielfach zu, und von der Religivnder Jenseitigkeit gilt es doch wohl heute uoch.

Wie stellt sich nun die Kirche dazn? Im Wesen des Christen-tums liegt selbst eiu socialistisches Element, das Lueasevaugelinmgiebt diesem entschieden Ausdruck. Mau sah in der Armut eineTugend uud iu deu Reichen Sünder und natürliche Feinde derFrommen; das Urchristentum war die Religion der armen nndkleinen Leute lange, ehe es die Religion der Reichen und derMachthaber wurde. Daher hat sich auch im Mittelalter gcgeu deuBerweltlichungsprozeß der Kirche eiue socialistische Unterströmungerhalten, Sekteu mit kommunistischen Ideen, Reformatoren mitsocialistischen Forderungen und Verheißuugeu traten immer wiederauf. Als die Reformation das Christentum aus seiue Quellenzurückführte, da erhofften die geplagten Bauern neben kirchlichenund politischen Reformen anch eine Erleichterung ihrer socialenLage vom Evangelium, im Kommunismus Thomas Münzers uudiu den phantastisch-häßlichen Scenen zu Müuster saud das seinenverzerrten Ausdruck. Angesichts dessen hatte Liebknecht ganz recht,wenn er in Halle sagte:der Kampf der Heißsporne gegen dieschriftliche) Religion sei schwerlich die rechte Methode"; namentlichdie Landbevölkerung stieß sich vielfach daran. Deshalb hätteauch die Kirche keinen Grund gehabt, sich der Bewegung vonvorne herein feindselig gegenüber zu stellen. Allein der Kampswar ihr durch jene Hinneigung der Partei zu einem atheistischenMaterialismus und die daher erfolgenden Augriffe förmlich auf-gezwungen, sie befand sich wirklich im Stande der Notwehr. Undihre Neigungen sührten sie, verweltlicht wie sie war, anch ohne dasans die Seite der Besitzenden und Mächtigen; wenn sie die be-stehende Ordnung verteidigte, so konnte sie sich diesen empfehlenund sich dabei dem revolutionären nnd aggressiven Wesen derSocialdemokratie gegeuüber auf das Wort des Paulus berufeinjedermann fei nnterthan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.