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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
Entstehung
Seite
520
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S20

Nach 1871: Socialismus und Socialdemokratie.

zu zerlegen". Darin haben wir es inzwischen nur zu verheißungs-vollen Anfängen gebracht, die eigentliche Arbeit bleibt gerade hierfürdem zwanzigsten Jahrhundert vorbehalten, das nach Schmollerdassociale" erst sein und werden wird.

Mit allem dem habe ich mich in der Hauptsache auf den Teilder socialistischen Bewegung beschränkt, der sich aus die Arbeiter-srage im engeren Sinn bezieht. Wir brauchen heilte das Wortsocial" aber auch in einer viel weiteren Bedeutung und hängen es sastwie eine Etikette allem möglichen Inhalt vor, wobei dieser Inhaltdavon oft recht unberührt bleibt und das Wort zur bloßen Phrasewird. Solches sich Berauschen an großen Worten nnd sichBegnügen mit bloßen Worten gehört auch mit zur Signaturder Zeit; im übrigen hat es keine Bedeutung. Dagegen sasseich hier das Gesagte noch einmal kurz zusammen, nm dasBild abzuschließen und eine Gesamtanschauung zu ermöglichen.Als der Soeialismns in den sechziger Jahren kam und wuchs, dabegriff man ihn erst nicht nnd ignorierte ihn wie eine Singularitätund thörichte Utopie; dann haßte man ihn wie die Sünde, weil erdie Kreise der nationalen Parteien störte; darauf ergriff Furcht undbleiche Angst die Bourgeoisie, weil er so mächtig um sich griff undsich so jugendlich wild und ungebärdig aufführte und auch wirklichbedrohliche Allnren annahm; nun aber kam die Wissenschaft unddas Gefühl, und unter ihrem Einfluß sehen wir heute in ihm desBerechtigten gar vieles sowohl in seiner Kritik unserer viel-gepriesenen Kultur als in seinen positiven Forderungen. Aber aucher selbst ist aus einer anfangs noch recht unreifen uud wirklichrevolutionären zu einer evolutionistischen Bewegung uud Parteigewordeu. Als er unter der Herrschaft des Socialistengesetzesdas Wortans gesetzlichem Wege" aus seinem Programm wegstrich,war das mehr nur Notwehr; hente ist er die radikalste Partei inVolk und Parlament, oder schon nicht mehr die radikalste: der ihmdiametral entgegengesetzte Anarchismus flaukiert ihn zur Linken.So sieht man heute doch ganz anders als noch vor fünfzehn Jahrenin weiten Kreisen die Bewegung wachsen, sich beruhigen uud kläreu ohne Furcht und ohne Haß, als eine Partei berechtigt wieandere auch, wenn auch vielfach unbequemer als die andern alle.