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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Zwei Thronwechsel.

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schien es, daß sich, als er starb, jener schon einmal citierte Eingangzu dem Aufsatz von D. Fr. Strauß über den König Wilhelm I.von Württemberg Wort sür Wort anch hier anwenden lasse:Wennin einem mit Menschen angefüllten Raume die lange geschlosseneThür einmal aufgeht, so wird, ohne Rücksicht darauf, wer es ist,der hinausgeht oder hereinkommt, vor allem der eindringende frischeLuftzug mit Erleichterung empfunden. Das ist naturgemäß dievorläufige Empfindung bei dem endlich eingetretenen Regierungs-wechsel, ganz abgesehen davon, wie man über den dahingeschiedenenHerrscher urteilen nnd was man von dem neuen erwarten inag.Jetzt muß doch manches anders werden, denkt man, was allzulangeso gewesen: ob besser, wissen wir freilich noch nicht; aber schondaß es anders wird, ist eine Befriedigung. Es müssen da unddort neue Persönlichkeiten ans Nuder kommen, wo schon die altenverschwinden zu sehen als Bürgschaft des Fortschritts erscheint".So zn fühlen nnd zu empfinden rüstete man sich in den achtzigerJahren ohne Nngednld und ohne Verletzung der Pietät. Da kamdas Unerwartete. Der Kronprinz, der die Mitte der fünfziger Jahrebereits überschritten hatte, somit selbst ein Mann des Wartens war,wurde von einer tückischen Krankheit erfaßt nnd besüeg im März1888 als ein dem nahen Tode Verfallener den Thron.

Die neunnndnennzig Tage seiner Negierung und ihre Geschichtegehören uicht zu den Ruhmesblättern des deutschen Volkes. Waser selbst als Fürst geleistet hätte und gewesen wäre, wissen wirnicht. Die Liberalen, die politisch und fast noch mehr die kirchlichLiberale,?, setzten große Hoffnungen auf ihn und seiue englischeGemahlin, und die lang vorbereitete von humanster Gesinnungzeugende Proklamation bei Übernahme der Regierung schien demrecht zu geben. Andererseits schrieb man ihm auch wieder ein starkesfürstliches Selbstbewußtsein zu, das damit im Widerspruch zu stehenschien. Übrigens ist es in der Geschichte stets wertlos, über einwenn" und eiuvielleicht" zu streiten, wichtig ist allein das That-sächliche, daß ihm jenes Liberalisieren die Konservativen entfremdete,deren Blicke sich dafür um so hoffuungsvolter auf seinen Nachfolgerrichteten. Und überdies galt Bismarcks Stellnng, schwerlich mit Recht,dadurch als bedroht, der gerade damals der Fortschrittspartei besonders

Ziegler, die geistigen II. socialen Strömungen des IS. Jahrh. 34