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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
Entstehung
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Nach 1871: ,?in äs sitzcls".

Einfluß herangewachsene Generation gewirkt hat: sie brach vielendas Rückgrat nnd gewöhnte durch ihr Vorangehen auf allen GebietenBeamte und Politiker au eine Unselbständigkeit des Urteils und aneine Fügsamkeit des Handelns, die den Charakter schädigte. Undin derselben Richtung wirkte auch das stark entwickelte monarchischeGefühl, das der ehrwürdigen Person Kaiser Wilhelms I. gegen-über etwas Innerliches nnd Herzliches hatte und dadurch geradezuversittlicht war. Als es nach dessen und uach Kaiser FriedrichsTod ohne weiteres Besinnen auf den Nachfolger nnd Trägerder Krone übertragen wnrde, nahm es ganz naturgemäß denCharakter des Äußerlichen und Konventionellen, des Künstlichenund Forcierten an. Die Ausbreitung der Majestätsbcleidigungs-prozesfe mit ihreu häßlichen Begleiterscheinungen eines gemeinenDenunziantentums nnd streberischer Charakterlosigkeit hängt damitzusammen, zeigt aber auch die Gefahr der Abstumpfung und derAbnahme des monarchischen Gefühls. Ein Nebeneffekt ist dieRückkehr zn jenem Stil des Anspielens und Andentens, das dielitterarische Ehrlichkeit und Tapferkeit beeinträchtigt und zu eiuermalitiösen und perniciösen Kritik führt, wie sie Maximilian Harden in derZukunft" mit ganz besonderer Virtuosität zu handhabenversteht. Nur schade, daß sie nichts hilst nnd nicht aufbaut, sondernnnr ätzend zersetzt und schließlich auch das dickflüssigere Germanen-blut in gärend Drachengift verwaudelt. So hat sich iu deu neun-ziger Jahren ein gewaltiger Umschwung in der Stellung des Volkeszu seinen Fürsten vollzogen: ein reiches Erbe ist überraschend schnellverloren gegangen, viele überzeugte Monarchisten sind es heute nurnoch mit dem Kops, nicht mehr mit dem Herzen, an die Stelledes warmen echten Gefühls ist vielfach ein künstlich forcierter liebe-dienerischer Byzantinismus getreten, dem dann natürlich auf deranderen Seite ebenso viel offen zur Schau getragene Gleichgültigkeitund Abueiguug gegenübersteht. Und doch, wo ein Volk sich sovielmit seinen Monarchen beschäftigt, an ihren Worten und Thatensoviel Interesse verrät und, wenu sie mit ihrer Persönlichkeit energischhervortreten, an ihren Reden so eifrig Kritik übt, als wären es Thaten,da zeigt sich, wie stark dieses monarchische Bewußtsein noch immer istund wie leicht deutsche Fürsten dasselbe für sich gewiuneu uud sich