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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Die Frauenfragc,

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wesentlich gleichartigen Bildung, womit ja die Frauenbewegung indiesem Jahrhundert begonnen hat. Da lag scheinbar nnd zunächst eingroßer Unterschied gegenüber der Frauenarbeiterfrage: dort handelt essich darum, die Eigenart der Fran wieder zur Anerkennung zubringen, aus der Arbeitern? wieder eine Frau zu machen; hier, wodie Frau faktisch und rechtlich von fast allen Gebieten der Arbeitund Erwerbsfähigkeit der Männer ferngehalten und ausgeschlossenwar, sollte ans der Fran uud dem Mädchen eine Arbeiterin gemachtund die durch Sitte und Knltnr künstlich erweiterte Kluft zwischeu demgebildeten Manu und der gebildeten Fran sollte verkleinert werden.Es ist also zuuächst eine Bildnngssrage, wie in den Zeiten derbeginnenden Romantik und des jungen Deutschland : die Frau willteilhaben an der Bildung der Männer. Genau geseheu handelt es sichaber in unserer von materiellen Interessen beherrschten Zeit doch auchhier um eine Existenz- und Lebensfrage. Wiewohl durchschnittlichmehr Knaben als Mädchen zur Welt kommen 106 auf 100,so gleicht sich schou im ersten Lebensjahr infolge der größerenSterblichkeit der Knaben das Verhältnis nahezu aus, kehrt sich all-mählich um und steigt mit zunehmendem Alter immer mehr zuGunsten der Fraueu, und so überwiegt iu ganz Europa und speciellin Deutschland die Zahl der Franen erheblich, in Deutschlaud be-trägt das Plus etwa eine Million. Dazu kommt dann die Ab-neigung unserer jungen Männer gerade auch in den oberen Ständengegen die Eingehung einer Ehe; sie ist teilweise in wirklichen socialenNotständen begründet, teilweise aber auch die Folge von sittlichverwerflichen Ansprüchen nnd Gewöhnungen dieser jüngere» Münner-welt. Zugleich häugt mit diesem Nichtheirateu-könuen uud -wollenso vieler junger Männer ein anderer Notstand zusammen, die unserVolksleben Physisch und moralisch durchseuchende Prostitution, dieso viele Frauen aus Mcuschen zu bloßen Werkzeugen männlicherWollust und das Wort vom europäischen Sklavenleben zu einer sograuenvollen Wahrheit macht. Aber die Hauptsache ist doch das,daß obeu noch mehr als unten die Zahl der unverheirateten Frauenin beständiger Zunahme begriffen ist. Ihnen gilt es Existenz zuschaffen; das oft gehörte Wortdie Frau gehört ins Haus"ist solange eine leere Phrase, als man nicht im stände ist, jeder