Das Wiedererwachen des Individualismus.
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gcfühl. Ganz besonders unerfreulich tritt das in dem über Raättzur Reichshauptstadt gewordenen Berlin hervor, wo sogar in Fragendes Geschmacks Suggestionen nnd Herdentierinstinkte die Menge leitenund selbst die Gebildetsten mit fortreißen, Anch das Individuellewird hier sofort wieder zur Mode und zur Sitte, zum Schlagwortund zur Parteisache oder führt gar zur Sektenbildung. Nur füräußere Dinge ift der Berliner gewitzigter als wir andern, dafürist er mehr Oberflächenmensch; denn die Differenzierung kaun nurin der Tiefe und anf dem Grunde wirken. Endlich handelt essich im Socialismus doch vor allen Dingen um Befriedigung undBesserung der äußeren Lebensbedingnngen, das giebt anch der zu,der die sociale Frage schließlich für eine sittliche Frage erklärt uuddarin die beste Rechtfertigung des Socialismus sieht, auf dasMilieu kommt es also an und dann erst auf das Persönliche undInnerliche. Und gegen das alles erhebt der Individualismus einengeradezu leidenschaftlichen Protest.
Zu Anfang des Jahrhunderts stand derselbe mit seiner Be-tonung der Innerlichkeit auf seiner höchsten Höhe. Schillersästhetische Erziehung hatte es auf schöue Individualitäten abgesehen,und Humboldt auf der klassizistischen, Schleiermacher auf der roman-tischen Seite waren wahrhaft virtuose Vertreter individuellerBildung. Im Staat und Staatsgedanken haben alle drei die Ein-seitigkeiten, welche diesen Individualismus bedrohen, überwunden:bei Schiller denke man vor allem an Wilhelm Teil , in dem derEinzelne als Held ans Vaterland sich anschließt und schließlichdem Ganzen, dem er angehört, Platz macht; bei Humboldt auseine Thätigkeit als preußischer Minister und seine Rezeption dersocialistischen Pädagogik Pestalozzis; und bei Schleiermacher anfeine Ethik, die als Lehre von den großen sittlichen Gütern derMenschheit der individualistischen Pflichtenlehre Kants so sieghaftgegenübertritt. Eine stark individualistische Richtung schlug dannder Liberalismus ein, der bis 1848 und nachher noch einmal dasGlaubensbekenntnis des gebildeten Mittelstandes war; das jnngeDeutschland hatte stark ausgeprägte individualistische Züge, die Franen,die ihm angehörten, kämpften um das Recht ihrer Individualität.
Tagegen bildeten seine Beziehungen zur Hegelschcu Philosophie mit
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