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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871: ,rin 6g sidete».

frei ist. Endlich kam der ebenfalls in der Romantik wnrzelndeSchopenhauer dazu mit seinem Pessimismus, seiner Mitleids-moral, die, die Schranken der Jndividuation durchbricht, und seinerTheorie von der Einzigkeit nnd Einzigartigkeit der Musik. DieMitleidsmoral aber wurde schließlich von Wagner als identisch oderdoch als wesensverwandt angesehen mit der christlichen Philosophiedes Duldens und Leidens; uud daher erscheint im Parsifal der echtgermanische reine Thor im Milieu des Schopenhauer -buddhistischenMitleids nnd des tiefsinnigen christlichen Erlösungs- und Erlöser-gedankens, er ist der Abschluß und die Zusammenfassung der ganzenEntwickelungsreihe.

So war Wagner bei aller Nomantik zugleich durchaus modernund deshalb ist für ihn einerseits der seltsame Bund mit dem unglück-lichen Nomantiker auf Bayerns Königsthron andererseits die eineZeitlang so intime Freundschaft mit Nietzsche charakteristisch. Umso auffallender könnte es darum scheinen, daß er solange nichtanerkannt und verstanden, solange ignoriert nnd darauf uicht minderlange aufs entschiedenste abgelehnt und aufs leidenschaftlichste be-kämpft wurde. Hier wäre natürlich vor allem auf die vielenmusikalischen Neuerungen seiner Knnst hinzuweisen, die es denMenschen zuerst schwer machten, ihr Ohr von der Melodie ab undan sie zu gewöhnen. Dazu kamen die großen Anforderungen, dieer wie an die Sänger so auch an das musikalische Verständnis derHörer stellte und die von den Zeitgenossen nicht sofort erfülltwerden kounteu. Erst in den sechziger und siebziger Jahren istlangsam seine Zeit gekommen: in jenen vermittelte das Modewerdendes Schopenhanerschen Pessimismus, in diesen das Erstarken desnational-deutschen Empfindens das Verhältnis zu diesen Schopen-hauerisch gedachten nnd in germanischem Geiste ausgeführten Kunst-werken. Zunächst kam freilich von anderer Seite die Hilfe, die ihnaus dem Nichts emporzog: der junge Bayernkönig Lndwig II., derenthusiastisch für ihn schwärmte, berief ihn 1864 nach München ,ließ dort seine Opern aufführen nnd plante, für den Nibelungen-ring ein eigenes Theatergebäude nach Semperschen Entwürfen zuerrichten. Allein nicht ohne Schuld Wagners selbst, der sich vonEinmischung in die Politik nicht ganz frei hielt, regte sich erst der