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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871: äs sisels"

künstlich hergestellten Atelierlicht gegenüber in sich barg, sehe ichanch hier wieder ab und rede nur von der ganzen naturalistischenTendenz mit ihrer Betonung des Milieus. Daneben rangen diepessimistischen und weiterhin noch stärker anch die socialistischenTendenzen der Zeit nach Ausdruck und Darstellung.

Die frommen Nazarener hatten überhaupt nicht maleu können,sie konnten noch vorher nicht sehen: vor lanter Jdcenfülle hattensie keine Zeit für die Technik ihrer Kunst, ans dem erhabeneilReich ihrer Ideen wollten sie nicht herabsteigen auf den Bodender gemeinen Wirklichkeit und hatten keinen Sinn für diese. Darummußten die deutschen Maler erst wieder sehen lernen, wie es dieFranzosen damals schon so meisterlich verstanden, und ihnen habensie es denn auch abgelernt. Die idealistische Kunst hatte ausPrinzip oder aus Unvermögen überall das Individuelle abgestreiftund das Charakteristische vermieden, der Naturalismus hat geradedasür wieder Augen bekommen: er sieht, was da ist nnd sieht es so,wie es ist. Tritt aber an Stelle des Idealen das Individuelle,an Stelle des Typischen das Charakteristische, so ist es zunächstgleichgültig, was man malt: es handelt sich nicht mehr um Idealeoder Tendenzen oder historische Vorgänge, sondern das nächstebeste thut denselben, ja es thnt weit mehr noch den Dienst, daransehen und es in seiner charakteristischen Wirklichkeit darstellen zulernen. Und da gerade über dem Schönmachen des alten Idealismusder Blick für das Charakteristische abhanden gekommen war, sohandelte es sich nun überhaupt uicht mehr um das Schöne, sondernnur um die Wiedergabe des Wirklichen, ob es schön sei oder nicht,und so griff man ebenso wie nach schönen auch nach häßlichenGegenständen. Nun siel aber das Aufkommen dieser Richtungzeitlich mit der Periode des Schopenhanerschen Pessimismus zu-sammen, und diesem entsprach es, die Welt im großen und ganzennicht nur für sittlich schlecht, sondern auch für ästhetisch häßlich zuerklären. Wollte mau also die Welt malen, wie sie war, so mußteman sie häßlich nnd mnßte Häßliches malen, das galt in diesemAugenblick für wahr. So kam auch hier wieder einmal demDeutschen alsbald die Theorie, die Philosophie in die Quere. DerNaturalismus wurde zum umgekehrten Idealismus; wie dieser die