Druckschrift 
Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
Entstehung
Seite
646
Einzelbild herunterladen
 

646

Nach 1871: äs sik-c-«.

Persönlichkeiten sind und als solche den Mut haben, mit eigenenAugen zu sehen und dann zu gestalten, was eigenartig in ihnenlebt, was sie selber sehen, fühlen und denken.

Die Poesie.

In mancher Beziehung parallel mit der Entwickelung derMalerei verläuft auch diejenige der Poesie, bei der wir nun endlichangelangt sind. In der Litteraturbeweguug im engeren Sinnpflegen ja die geistigen Strömungen immer am deutlichsten undschärfsten zu Tage zu treten, sehen wir also zu, ob sich nicht auchuns hier noch einmal wie in einem Blick konzentriert das ganzeBild des geistigen Lebens der letzten dreißig Jahre vor uuscremAuge in voller Klarheit darstellt und alle Strahlen desselben wiein einen! Brennpunkt zusammenlaufen.

Auf das Jahr 1870 werden wir dabei zunächst wieder zurück-gewiesen. Man hätte denken können, daß das große Jahr dernationalen Einigung und des siegreichen Kampfes ähnlich wie dieBefreiungskriege zu Anfang des Jahrhunderts eiue Fülle vonpackenden und zugleich bleibend wertvollen Dichtungen hervorrufenwerde. Und wirklich findet sich anch unter dem Vielen, was ge-sungen wurde, manches Erfreuliche und Nette, manches frische,krüstige Lied; aber eine große Poesie und wirkliche Dichter, einNeues und Durchschlagendes hat es uns nicht gebracht; auch dieAlteu, Geibel und Freiligrath gaben nicht mehr als einige rhetorischklingende Verse; daß ein als Gedicht nnd als Komposition so herzlichschwaches Lied wie die in den vierziger Jahren entstandeneWacht amRhein" das Lied jener Tage geworden ist, beweist doch nur, wie an-spruchslos wir damals waren. Der Krieg war zu plötzlich gekommen,der Sieg zu rasch erfochteu, die Spannung also zu kurz, die Erregnngzn wenig aus Finsternis zum Licht sich emporringend, als daß sie sichhätte auslösen müssen in Liedern, die aus der Tiefe kamen und in dieTiefe drangen. Das nationale Glück war uns gekommen überNacht, uun galt es erst einmal darin heimisch zn werden und sichihm anzupassen. Und es war die Zeit, wo wir dnrch BisinarckPolitisch nnd realistisch wurden und saure Mauuesarbeit zu ver-richten hatten: sür die Poesie schien da kein Raum mehr, zum