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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871: äs siede«.

deutscher" Dichter ist der in Göttingen geborene ohnedies nichtgewesen; die Schwaben frenten sich noch immer an ihrem Mörike,Nhland und Kerner oder anch schon an I. G. Fischers Gedichten,den der Norden ebenso wie seinen eigenen Theodor Storm alsLyriker erst viel später entdeckt hat.

Für die Bühne griff man mit Vorliebe nach den Ehebruchsdramender Franzosen , die immer noch besser waren als ihre deutschenkläglich abgeschwächten und schwächlich hergerichteten Nachahmungenohne Grazie und Geist; die Technik wenigstens nnd die Machekonnte man von ihnen lernen. Erfreulicher war das Auftreten derMeininger: durch ihr Dringen ans stilgerechte nnd historisch richtigeAusstattung halfen sie den Sinn für das Echte wecken und machtensozusagen von außen her die Freude an Schiller nnd Shakespearennd Kleist wieder lebendig.

Das Nengewordene zu großem Ausdruck zu briugeu warenGustav FreytagsAhnen" bestimmt, deren sechs Bände in diesiebziger Jahre fallen. Sie sollten die Geschicke des deutschen Volkesvon seiner germanischen Urzeit an bis herab auf die Gegenwart amSchicksal Einzelner ans der großen Kette von Ahnen und Enkelnin farbenreichen Bildern darstellen und uns dasselbe iu Leid uudFreud, in Not uud Tod, iu Sieg und Glück begleiteil lassen.Allein die Kraft des Erzählers war dem großgedachten Unternehmennicht gewachsen, ein künstlich angeanälter Stil setzte von vorneherein die ersten Bände billigem Spott aus, die Verquickung vonRoman und Kulturgeschichte ließ das eine oder das andere zu kurzkommen, und schließlich erlahmte das Interesse der Leser, noch eheman beim letzten Bande angekommen merkte, daß es doch nichteigentlich tantas raolis bedurft Hütte, um einen modernenZeitungs-schreiber" als Schlußglied der Kette werden zu lassen. Aber immer-hin, die Ahnen waren ein Großgewolltes; und die Freude an unseremdeutschen Volkstum haben sie doch bei manchem gestärkt; nur eineinheitliches uud großartiges Kunstwerk waren sie nicht. Noch mehrals Freytag fehlte es Spielhagen au Gestaltungskraft, wenn erüber die achtuudvierziger Jahre hinabgiug uud Lassalle oder garBismarck schildern wollte; er schuf Zeitromaue wie vor ihm Gutzkow oder Laube, aber für einen Dichter war er zu sehr der Mann