Die deutsche Litteratur vor Goethe. Z
verzweifelten Galgenhumor der Gesunkenheit heraus eiue witzigeSatire. Aber sonst, in den breiten Grnppen der dichtenden Ge-lehrten, Geistlichen, Höflinge — welche Dürftigkeit, Gedankenarmut,Unbehilflichkeit, Geschmacklosigkeit! In dem Publikum, das Lohen-stein bewundert, welche Kritiklosigkeit! in den Fehden der Litteratenwelche niedrigen Gesichtspunkte! welche Roheit und Charakter-losigkeit!
Da kommen die Vorklassiker. Hall er bringt wieder Ernst undKraft, Hagedorn Leichtigkeit und Geschmack, Geliert lehrt wiedereine gewisse Natürlichkeit der Rede, Gottsched nnd die Schweizer gewinnen wieder höhere Standpunkte der Kritik und der litterarischenPädagogik. Auf dem Fuß folgen ihnen die Klassiker. Klopstock giebt wieder ein großes Beispiel dichterischer Kühnheit, ergreiftschwungvoll die höchsten Interessen: Religion, Vaterland, Humanität,und spricht in seinen Oden persönliche Empfindungen frei lindwahr aus. Lessing wirft mit sicherer Kritik den angehäuftenDilettantismus beiseite, schafft eine Prosa, wie Deutschland sie seitLuther nicht kannte, und erzieht durch seine stolze Selbständigkeitein seit Jahrhunderten an bestellte Arbeit gewöhntes Publikum zuder Forderung, daß der Dichter sich selbst und seine innere Wahr-heit geben müsse. Wieland lernt Franzosen und Engländern diebei uns gänzlich verfallene Kunst der Erzählung ab und würztsie durch eine freie Gesinnung. Herder betont den Begriff derOriginalität, reißt endgültig die Scheidewand nieder, die den „Ge-bildeten" den Blick auf die volkstümliche Dichtung entzog, undbahnt den großen Verkehr einer Weltlitteratur an. Alle wirkensie dabei zugleich als Persönlichkeiten, Lessing vor allen, das Vor-bild eines kühnen und freieu Geistes, aber auch Klopstock undHaller mit ihrer getragenen Würde, Wieland und Hagedorn mitihrer Liebenswürdigkeit, Herder nnd Geliert mit ihrem PädagogischenErnst. Der Dichter wird wieder ein Künstler, wird wieder einMann, dem auch die eigene Lebenshaltung ein Kunstwerk sein soll.Das hätten Lohenstein und Wernicke, das hätten gar JohannChristian Günther und Christian Reuter nie verstanden.
Dauu tritt Goethe auf. So viel war schon geschehen — esverschwindet doch fast vor dem, was er that. Eine unerreichteUniversalität des Geistes läßt ihn alle Stimmungen und alle Ge-fühle durchleben vom titanischen Ringen des Prometheus zum be-haglichen Spiel manches Scherzgedichtes. Das Gebiet der poetischen
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