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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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Einleitung.

Formen wird unendlich erweitert, indem er sich fremde Metra an-eignet, alte ernent, den freien Rhythmen eine ungeahnte Durchbildungund Verwendbarkeit giebt.Tasso",Jphigenie",Faust " schaffe»ein psychologisches Drama, wie es Deutschland noch nie, die Weltseit demHamlet" nicht gesehen hatte.Werther " und dieWahl-verwandtschaften" reinigen den Roman von jenen Zuthaten, dieeinst vorzugsweise alsromanhaft" galten, von seltsamen Aben-teuern und geheimnisvollen Persönlichkeiten, und stellen ihm diesur Deutschland mindestens neue Aufgabe, den Verlauf einer typischenBegebenheit schlicht und ergreifend zu erzählen.Wilhelm Meister ",weniger originell als die beiden andern Romane, faßt doch dasZiel, ein Zeit- und Weltbild von einigerTotalität" zu liefern, mitfolgenreicher Energie ins Auge. Doch wie könnten wir alles auf-zählen, was Goethe auf allen Gebieten der Poesie in Stoffwahlund Technik, innerer und äußerer Form dem modernen Menschen neugeschenkt hat! Das verrufene Lehrgedicht sogar gewinnt unter seinenHänden, obwohl er selbst es theoretisch verwarf, in Gedichten wie derMetamorphose der Pflanzen" neues Leben. Und mit nie ermüdenderArbeit eignet der Dichter die ganze Natur sich und der Poesie an.Da war so lange nur von Liebe oder von Staatsaktionen dieRede gewesen, und drittens etwa noch von Festen und Trauer-fällen. Jetzt wird der Drang nach Erkenntnis, nach Macht, jetztwird die unbestimmte Sehnsucht, das Absterben der Lust am Lebenwird Gegenstand poetischer Darstellung. Die unbelebte Natur warsonst nur in konventionellen Wendungen von Wald und Rose oderin mythologisch-galanten Floskeln näher hereingetreten; Goethe ver-senkt sich in Werden und Vergehen des Stroms und des Veilchens,fühlt das Seelenleben des Heidenrösleins , lebt die Stimmungendes Mondes durch. Und diese große Neuerung selbst, daß derMeister zu lernen nicht müde ward, daß kein Studium ihmtrocken"und keine Thatsache ihmunpoetisch" war, daß er die Dinge kennenlernen wollte, bevor er sie beschrieb sie war vielleicht wichtigernoch und folgenreicher als alles Einzelne.

Immer aber und überall blieb Goethe der große Verächterder Menge. Sich selbst wollte er aussprechen oder sein Bild vonPersonen und Sachen. Oft war das ein typisches Bild; zuweilen warer selbst ein Typus seiner Zeit. Mit demWerther", demFaust "sprach er wirklich die Stimmung von Tausenden aus; aber es warendoch immer tausend Einzelne. Und neben den Einzelnen giebt es