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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Goethe und Schiller.

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Kollektivpersönlichkeiten, die sich aussprechen wollen, Gruppen, Massen,Stände. Goethe wies sie zurück. Wo Massen sprachen, ward erunwillig nicht bloß der französischen Revolution gegenüber,sondern auch, als in Deutschland die Begeisterung der Freiheits-kriege hell aufloderte.

Aber der Dichter desTell" verstand solche Stimmen. DenForderungen großer Gruppen, den Ansprüchen, die wir vorzugs-weiseZeitideen" nennen, lieh Schiller sein weittönendes Organ.Marquis Posa spricht freilich, wie kein Mann am Hofe PhilippsHütte reden dürfen, reden können; aber aus seinem Munde sprichteine ganze Generation. Dem Verlangen lebendiger Parteien Aus-druck zu geben, einleuchtend uud klangvoll zu formulieren, wasunklar in der Luft liegt, genügte seit Luther erst wieder Schiller ;die Poesie mit den Leidenschaften ganzer Völker zu erfüllen daslehrte Schiller erst wieder die Deutschen ; seit der Reformation hattensie es verlernt. Selbst seinephilosophische Dichtung" war nichtmehr einfach die Übersetzung von Lehrmeinungen in Verse siewar der individuelle Ausdruck von ethischen uud ästhetischen For-derungen einer Partei, einer Zeit, eines Volkes.

So viel war am Anfang dieses Jahrhunderts erreicht. Unendlichviel war erobert, einiges unverlierbar, anderes leider nur für einigeZeit. Aber selbst in dieser Epoche der Neuerwerbungen war mancheseingebüßt worden. Man lernt nicht, ohne zu verlernen. Goetheund Schiller verloren auf der Höhe ihrer Kunstvollendung fürmanche Regung, die sie in der Jugend geteilt hatten, das Ver-ständnis. Ihre Theorie ward zu streng, zu eng. Uud die Machtihres Einflusses drückte manche selbständige Natur nieder oder warfsie in die Bahnen der Nachahmung. Der Kampf gegen dieKlassiker ward einen Augenblick lang Notwendigkeit. Aber selbstdas förderte, lenkte auf neue Wege. Und jeder Fortschritt erweckteneue Bedürfnisse, jedes Bedürfnis neue Versuche und Anstrengungen.

Wir bemühen uns also, die Geschichte der deutschen Litteraturim 19. Jahrhundert darzustellen als die Geschichte der litterarischenBestrebungen unseres Volkes,- mögen sie nun zu einer Erweite-rung des Stoff- und Formengebietes geführt haben, mögen sievollendete künstlerische Leistungen ergeben haben oder nicht.

Was würde uns aber schließlich das ganze Bild rastloser Ent-wickelungen bedeuten, weuu uns die Menschen nicht interessierten,in deren Seele sich dies große Drama vollzog? Daß wir Charaktere